Achtsamkeit – Mehr als ein temporärer Trend

Seit geraumer Zeit fragen wir uns: Was ist eigentlich dieses „New Work“ oder zu deutsch: Neues Arbeiten? Unsere Welt ist im Wandel. Home Office hat während der vergangenen 1,5 Jahre Einzug in die Arbeitswelt erhalten. Digitale Medien fördern den Austausch unter Kolleg:innen. Doch obwohl diese neuen Formen des Arbeitens mehr Flexibilität ermöglichen sollen, berichten immer mehr Arbeitnehmer:innen von zunehmendem Stress, Druck sowie Depressionserscheinungen aufgrund der anhaltenden Krisensituation und hoher Arbeitsbelastungen. Achtsamkeit wurde lange als Trend bezeichnet. Betrachtet man jedoch die beschriebenen Umstände, wird deutlich:

Achtsamkeit als Weg zu Resilienz und Empathie wird zunehmend wichtiger für die Menschen in der Arbeitswelt und auch privat.

Wie können aber nun Achtsamkeitspraktiken im Unternehmen helfen, Zukunftskompetenzen wie Resilienz, Empathie, Innovationsfähigkeit oder Veränderungsbereitschaft zu entwickeln? Wie man praktische Methoden der Achtsamkeit in die Arbeit als Führungskraft oder im Team integrieren? Letztendlich dürfte inzwischen unstrittig sein, dass im Zeitalter der Digitalisierung Achtsamkeit ein wesentlicher Bestandteil ist, um eine „neue Arbeitswelt“ zu kreieren und zukunftsfähige Unternehmen von innen heraus mitzugestalten.

Achtsamkeit und New Work – wie passt das zusammen?

“New Work” wird hier als Arbeitswelt verstanden, die sich in einem rasanten Wandel, bestimmt durch digitale Fortschritte, befindet. Die Veränderung der Arbeitswelt hat sich in den letzten 10 Jahren beschleunigt durch eine Veränderung von Bedürfnissen von Mitarbeiter:innen, neuen Anforderungen an die Führung und einer sich verändernden, dynamischen Wirtschaft. Diese neue Arbeitswelt ist geprägt von digitalen Werkzeugen, dem Bedarf an grenzübergreifender Kollaboration im Unternehmen und deutlich erweiterten Kompetenzprofilen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten und Kompetenzen es braucht, um mit diesem Wandel und den dazugehörigen Begleitumstände umzugehen?

Achtsamkeit – Buzz oder Notwendigkeit?

Achtsamkeit wird heute oft als esoterischer Trend disqualifiziert, der noch einen weiten Weg vor sich hat, um als anerkannte Entwicklungsmaßnahme in der Arbeitswelt etabliert zu werden.  Auch wenn immer mehr Unternehmen Achtsamkeitsprogramme aufsetzen und wir in U-Bahnstationen plötzlich überall praktizierende Yogis auf Werbeplakaten sehen, heißt das nicht, dass Achtsamkeit wirklich in unser Leben bzw. unsere Art zu arbeiten eingezogen ist. Deshalb sollten wir uns selbst beständig fragen:

Was bedeutet Achtsamkeit für mich? Was bedeutet es für uns selbst und unsere Form des Arbeitens?

Eine verbreitete Definition des Begriffs wurde geprägt von Jon Kabat-Zinn, einem emeritierten Harvard Professor, der das Programm Mindfulness-based Stress Reduction (zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) mitgestaltet und in die Breite getrieben hat. Er definiert Achtsamkeit als Präsenz im aktuellen Augenblick, die man mit Mitgefühl und ohne zu werten erlebt. (Kabat-Zinn, 1982)

Achtsamkeit bedeutet also zunächst im Hier zu sein, Da zu sein, wach zu sein.

Das menschliche Gehirn und die Gedanken

Und genau da wartet bereits die erste Herausforderung auf uns. Denn unser Gehirn neigt evolutionär bedingt dazu, entweder in der Vergangenheit zu schwelgen oder die Zukunft zu analysieren. Das sehen wir auch im Arbeitsalltag. Forecasts und Vergangenheitsanalysen bestimmen die Strategien, Pläne und Abläufe im Unternehmen. Daraus resultieren schlussendlich die allseits bekannten Aufgabenlisten und Projektpläne. Das ist im Grunde auch nicht verkehrt, doch werfen wir einen genaueren Blick in unser Gehirn: Wir denken knappe 70.000 Gedanken am Tag. Davon sind 70% sich wiederholende Gedanken, etwa 29% negative Gedanken und nur ein Bruchteil davon sind wirklich neue Gedanken. (Dopfer, 2019)

Wenn wir dann durch externe Einflüsse wie etwa zu lange Aufgabenlisten, die Arbeit von zu Hause aus oder die Unsicherheit über die kommenden Monate zusätzlich Stress empfinden, verstärkt das den „Analysemodus“ und die repetitiven Gedanken. Erweitern wir dies um die negativen Gedanken, die sich nun verstärkt wiederholen, landet man leicht in einem Gedankenstrudel, der nur schwer zu beherrschen ist.

Achtsamkeit in der Praxis: Resilienz und die innere Widerstandsfähigkeit aufbauen

Stress und Druck sind in unserem Alltag offensichtlich ganz normal. Aktuelle Studien belegen: Jeder sechste Fehltag ist auf psychische Belastungen zurückzuführen (BKK Gesundheitsreport, 2020) – Tendenz steigend. Insbesondere in einem Umfeld der Veränderung steigen Stress und Druck, denn sie erfordern Umdenken und neues Handeln. Das kostet das menschliche Gehirn Energie und Kraft.

Etwa 50% der Mitarbeiter:innen berichten von akuten Stresszuständen und auch davon, dass diese speziell in den letzten Monaten durch digitales Arbeiten, Mangel an physischem Austausch mit den Kolleg:innen und Unsicherheiten über ihre berufliche Sicherheit zugenommen haben. (BKK, Gesundheitsreport, 2020)

Dabei drückt sich Stress im Körper durch verschiedene Reaktionen aus, die als Fight-, Flight or Freeze-Response (zu Deutsch: Kämpfen, Flüchten oder Erstarren) beschrieben werden. Hierbei reagiert das Nervensystem des Körpers auf den empfundenen Stressimpuls und löst, ohne dass wir bewusst darauf einwirken, entsprechende Reaktionen aus.

Achtsamkeitspraktiken wie Atemübungen, Meditation oder auch Yoga haben eine regulierende Wirkung.

Sie können uns helfen, einen aktiven Ausgleich zu schaffen und wirken beruhigend auf das Gehirn und unser Nervensystem ein. So können Atemtechniken eine Balance zwischen dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem herstellen.

Nach einer anstrengenden Konfrontation im Meeting beispielsweise, nach welcher Nacken und Kopf verspannt sind und das Herz deutlich schneller schlägt, kann folgende Übung helfen:


Den Atem zählen: 

Atme ein und zählt bis 3, atme aus und zähle bis 6. Wiederhole diese Übung  so lange, bis sich Körper und Kopf langsam entspannen und die Gedanken wieder ruhiger werden.


Das Einbinden von kurzen Atemübungen in den Alltag ist übrigens leichter als manche denken mögen. Denn wenn unser Gehirn eine Übung als angenehm wahrnimmt, wird automatisch eine positive Assoziation hergestellt. Durch regelmäßige Wiederholungen entsteht ein positives Verlangen nach dieser Übung und schon haben wir unser Verhalten ein Stück verändert. Diese Fähigkeit des Gehirns wird auch als Neuroplastizität bezeichnet.

Durch Achtsamkeit zu mehr Empathie im Team

In Organisationen arbeiten wir an eigenen sowie an gemeinsamen Projekten. Kollaboration über die Grenzen des eigenen Teams hinaus und gemeinsames Gestalten wird in einer neuen und innovativen Arbeitswelt zunehmend wichtiger. Ebenfalls bedingt durch die Digitalisierung, die die Datenbanken des Wissens stetig anwachsen lässt, ist kollaboratives Arbeiten und eine gute Vernetzung im Team elementar, um handlungsfähig zu bleiben. Zwischenmenschliche Beziehungen, aktive Kommunikation und Transparenz im Team sind hier unumgänglich.

Doch unter den bereits genannten Stresssituationen ist es nicht immer leicht, aufnahme- und beziehungsfähig zu bleiben. In den letzten Monaten berichteten zudem viele Personen, dass im Home Office der informelle Austausch mit den Kolleg:innen zu kurz kam und kritisierten die hohe Sachorientierung virtueller Meetings.

Neurowissenschaftler:innen stellten fest, dass spezielle Achtsamkeitsübungen zu Mitgefühl wie bspw. die Metta-Meditation, unsere Fähigkeit zu Empathie gegenüber uns selbst und Menschen in unserem Umfeld beleben.

Sie regen dabei Areale im Gehirn an, die aktiv werden, sobald wir Mitgefühl empfinden und intensivieren die Ausschüttung von Oxytocin – dem sog. Beziehungshormon. Menschen berichteten daraufhin, dass sie aufmerksamer im Dialog zuhören und freundlicher sowie weniger kritisch gegenüber sich selbst und den Gesprächspartner:innen waren. (Dopfer, 2019)

Diese Einblicke können so auch in die Arbeitswelt überführt werden und als Anregungen zur Entwicklung von digitaler Empathie dienen. Eine Möglichkeit dies im Team zu üben, ist der achtsame Check-In.


Der Achtsame Check-In

Zu Beginn des Meetings nehmen sich alle Teilnehmer:innen 5 – 10 Minuten Zeit, um eine konkrete Frage zu beantworten. Das kann bspw. sein: „Wie ist heute meine Wetterlage?“ – Antwort: „Meine Wetterlage ist sonnig, weil….“ Anschließend gibt der Sprecher oder die Sprecherin den Talking Stick an eine Person im Meeting weiter, die dann ebenfalls ihre Wetterlage teilt.


Achtsame Check-Ins haben sich vielfach in der Praxis bewährt. Organisationen, die diese Methode über einen längeren Zeitraum anwenden, berichten von einer verbesserten Kommunikation innerhalb verschiedener Teams, von mehr Verständnis der Kolleg:innen untereinander und von einem erhöhten Fokus während der Meetings.

Innovation und Kreativität – Bekannte Zukunftsfähigkeiten

Was wir bereits erkannt haben ist, dass das menschliche Gehirn dazu neigt, Gedanken zu wiederholen. Es bevorzugt darüber hinaus in bekannten Routinen und Mustern zu agieren. Demnach geben vertraute Strukturen und Prozesse in Organisationen Mitarbeiter:innen Sicherheit und Orientierung für Entscheidungen und Handlungen.

Innovation erfordert jedoch ein Abbiegen von gewohnten Bahnen. Innovation entsteht aus Kreativität, aus Umdenken und aus der Fähigkeit, den bestehenden Status Quo zu hinterfragen.

Diese Prozesse kosten unser Gehirn Energie, denn es bedeutet einen zusätzlichen prozessualen Aufwand, vom Gewohnten abzuweichen.

Achtsamkeitsmethoden wie bspw. die offene Meditation fördern die Kreativität. Hier versuchen die Praktizierenden, die Gedanken vorbeiziehen zu lassen, wie Wolken am Horizont. Dabei ist genau das eine der herausforderndsten Übungen, da unser Gehirn dauerhaft neuronale Impulse übermittelt und damit eigentlich ständig denkt. Im Grunde genommen, geht es aber nicht direkt darum “nicht zu denken”, sondern darum, Gedanken wahrzunehmen, ohne darauf zu reagieren.


Das Labelling

Das Labelling ist eine Übung, in der man während der Meditation versucht, aufkommende Gedanken mit einem Wort zu benennen. Exemplarisch: „Ich muss noch den Geschirrspüler ausräumen.“ – Label: „Geschirr“ und den Gedanken ziehen lassen. Bei regelmäßiger Wiederholung dieser Methode wird man schnell erkennen, dass die Intervalle zwischen den Labels zunehmen und die Menge der Gedanken etwas weniger wird.


Diese Methode hat sich vor kreativen Sessions wie Brainstormings als hilfreich erwiesen. Teams berichten, dass durch eine teaminterne offene Meditation mit Einbeziehung des Labellings eine größere Anzahl von neuartigen Ideen entstanden sind als im Vergleichszeitraum ohne diese Methode.

Mit Veränderungsbereitschaft eine neue Arbeitswelt designen

Achtsamkeitsmethoden unterschiedlichster Art fördern die Entwicklung wichtiger Zukunftskompetenzen für eine innovative und neue Arbeitswelt. Die Forschung bestätigt, dass Achtsamkeitspraktiken das menschliche Selbstbewusstsein stärken und diese uns durch mehr Präsenz zu uns selbst bringen. Das heißt auch, dass Achtsamkeitsmethoden unsere Introspektion und unser Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele fördern.

Warum ist das in einer Welt des Wandels wichtig? – Wer heute seine Bedürfnisse und Ziele erkennt und anerkennt, wird sich ebenfalls beruflich bewusster ausrichten, sich entsprechende Fortbildungsmöglichkeiten suchen und die so gewonnenen neuen Fähigkeiten in den Berufsalltag einbringen.

Wandel im Unternehmen lebt von motivierten und couragierten Menschen, die sich befähigt fühlen, diesen Wandel mitzugestalten und die schlussendlich die Effekte ihres eigenen Handelns sehen möchten.

Genau das beschreibt die Entwicklung einer neuen Arbeitswelt.

Mit Achtsamkeit zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft

Wenn wir zukünftig von einer neuen Arbeitswelt sprechen, sollten wir das Neue in Zusammenhang mit Achtsamkeit denken. Als Grundstein für die Ausprägung wichtiger Zukunftskompetenzen wie Resilienz, Empathie, Innovations- sowie Veränderungsfähigkeit ist die Integration von Achtsamkeit wegbereitend. Doch nicht nur das: Achtsamkeit bedeutet in diesem Kontext auch, eine Möglichkeit für uns Menschen zu uns selbst zu finden und zu erleben, wer wir als Mitgestalter und Mitgestalterinnen einer neuen Arbeitswelt und einer nachhaltigen Wirtschaftswelt sein möchten. Wenn wir uns diese Chancen vor Augen führen und sie achtsam und mit Selbstbewusstsein ergreifen, werden wir die Gestaltung einer neuen Arbeitswelt nicht mehr „den anderen“ überlassen. Wir werden selbst zu einem natürlichen Teil des Wandels und bringen dadurch auch zum Ausdruck: Wir sind wichtig in der New Work-Welt – als Mitarbeiter:innen, Führungskräfte und als Menschen.

 

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