Zeit ist nicht gleich Zeit. Zeit ist bisher nicht eindeutig definierbar und je länger man über sie nachdenkt, desto verwirrender erscheint sie. Wir Menschen messen einerseits Zeit, andererseits haben wir unterschiedliche Wahrnehmungen von Zeit. Bei der Zeitdauer messen wir in Sekunden, Minuten, Stunden usw. Uhren zeigen einen Zeitpunkt an, wobei der Tag in 24 Stunden unterteilt ist, so ist unsere gesellschaftliche Konvention. Aber: Zeit vergeht gefühlt mal schnell, mal langsam – je nachdem, ob wir gerade mit einer spannenden Tätigkeit beschäftigt sind oder ob uns langweilig ist.
Zeitliche Rhythmen
Es gibt aber noch mehr Ansätze: In der Chronobiologie beschäftigt man sich mit dem wissenschaftlichen Gebiet der zeitlichen Rhythmen in Organismen. 2017 gab es hier sogar den Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin. Abgesehen von Variationen in der zeitlichen Abfolge und Dauer werden biologische Aktivitäten durch interne Zyklen im Menschen selbst koordiniert und zeitlich gesteuert, die allgemein als „biologische Rhythmen“ bezeichnet werden (siehe z.B. das ehemalige EU-Projekt EUCLOCK). Interne Zyklen und unsere „inneren Uhren“ stehen in direkter Wechselwirkung und können durch exogene Signale reguliert werden, vor allem durch Licht. Intensität und Farbe des Lichts sind dabei besonders prägend.
Diese Signale nehmen wir Menschen während der täglichen Aktivitäten und der sozialen Routine auf, wie z.B. auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder durch Sport, späteres Aufstehen an einem arbeitsfreien Wochenende usw.
Wir passen uns aber auch an soziale Vorgaben an: die Schule beginnt z.B. um 7:45 Uhr, der Bus zur Arbeit fährt um 7:00 und um 23:00 ist die Party zu Ende. Die Fehlanpassung zwischen biologischen (also den mir eigenen) und sozialen Rhythmen (also den mir vorgegebenen) gilt als ein bedeutender chronischer Stressfaktor, der Produktivität, Wohlbefinden und Gesundheit negativ beeinflusst (z.B. Islam et al. 2018).
Mit der Entwicklung und Koordination unseres täglichen Lebens nach der Uhrzeit seit Beginn der Industrialisierung wird die Mitnahme oder Synchronisation mit Licht und anderen externen Faktoren immer schwieriger und führt zu einem sogenannten „sozialen Jetlag“ (z.B. Touitou et al. 2016; Roenneberg et al. 2012). Studien haben gezeigt, dass die mangelnde Koordination der multiplen endogenen und exogenen Uhren zu Krankheiten (z.B. Metabolisches Syndrom, Diabetes, Bluthochdruck) führen kann, wenn die Synchronisation in unserem Körper nicht mehr effektiv ist oder zu oft gestört wird. Der Mensch bemerkt diese subtilen Entwicklungen, die seine Zeitwahrnehmung und damit die zeitlichen Charakteristika seines Verhaltens verzerren, erst einmal gar nicht.
Rhythmen des menschlichen Lebens und Arbeitens
All dies beschreibt eine besonders komplexe zeitliche Landschaft des menschlichen Verhaltens, die unweigerlich einen großen Druck in unsere täglichen Entscheidungen und Handlungen einbringt. Dafür sind die unterschiedlichen Zeiten verantwortlich, die oft mit verschiedenen Worten angesprochen werden: 1. kronos/ chronos (griechisch), die Zeit gemessen in Jahren, Stunden, Minuten, Sekunden, 2. kairos (griechisch), die Qualitätszeit, der richtige Zeitpunkt oder „Timing“, 3. Rhythmen – Zeiten, die mit einer Regelmäßigkeit kommen und gehen und die dem Menschen eine Art Stabilität in seinem Leben geben (z.B. Jahreszeiten oder die Rhythmen der täglichen Aktivitäten), 4. das Tempo (Albert 2013) und eine gefühlte Beschleunigung der Zeit (Rosa 2005) und 5. die persönliche und freie Zeit, auch „Eigenzeit“ nach Nowotny 2012. Über das Konzept der „Zukunft“ in der Zeit (Cuhls 2019) gibt es nur wenig Literatur.
In derartigen Zeitkonzepten werden drei verschiedene Zeitbereiche anerkannt: die endogene Zeit, die durch die biologische Uhr im Gehirn koordiniert wird, die natürliche Zeit, die durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit angezeigt wird, und die soziale Zeit, die von den Uhren an der Wand bestimmt wird.
Besonders interessant sind die Rhythmen: Beim Menschen sind die Entkoppelung der natürlichen Rhythmen, z.B. durch Schichtarbeit, nicht mehr nach draußen gehen (damit fehlen lebenswichtige Lichtimpulse) oder unregelmäßiges Schlafen (permanente Party, Rund-um-die-Uhr Computerspiele, Smartphones) sowie die ständige Orientierung an Uhren und der gesellschaftlichen Zeit der Gesundheit abträglich. Häufig leben Menschen zusammen, die unterschiedliche Rhythmen haben – und sich deswegen streiten oder zu wenig Schlaf bekommen.
Wir ticken unterschiedlich
Im Grunde ist das gut untersucht, auch wenn noch viele Einzelheiten fehlen. Zum einfachen Verständnis empfehle ich das Buch „Wie wir ticken“ von Till Rönneberg. Jeder Mensch ist einzigartig – jeder reagiert anders auf Licht und hat eine andere, in der DNA codierte chronobiologische Zeitwahrnehmung. Bekannt ist, dass es „Eulen“ und „Lerchen“ gibt – und ganz viel dazwischen. Menschliche Körper versuchen, sich den Gegebenheiten anzupassen und die inneren Uhren, die jedes Organ hat, werden immer wieder synchronisiert (im Hypothalamus des Gehirns – genauer: im suprachiasmatischen Nukleus, SCN).
Aber leider übertreiben wir Menschen es gern. Schichtarbeit, also permanentes Wachsein entgegen dem biologischen Rhythmus, schädigt den Menschen – das kann Folgen wie Bluthochdruck, Diabetes oder eine Entkopplung der Stoffwechselvorgänge usw. haben.
Dazu kommt noch, dass sich die Rhythmen im Laufe des Lebens verändern – Jugendliche sind grundsätzlich eher „späte Typen“ (Richtung Eulen). Erschwerend ist hier, dass die Schule trotzdem in der Regel um 7:45 beginnt, im Grunde für alle Teenager viel zu früh. In der Homeschooling-Phase im Frühjahr 2020 war für die meisten Teenager das Beste, dann (aufstehen und) lernen zu können, wann sie wollten, und nicht, wann die Schule es diktierte.
Und nun Arbeiten im Home Office
Aber das gilt auch für die arbeitende Bevölkerung im Home Office: Dann arbeiten, wann es der Chronobiologie am besten passt, wann man sich am besten konzentrieren kann und ausgeschlafen ist. Für einige war das im Frühjahr 2020 richtig gut. Für andere weniger: Arbeitsrhythmen gerieten durcheinander, die festen Arbeitszeiten und Strukturen lösten sich auf, und auch die feste „Arbeitszeit“ im Sinne einer Zeitdauer (z.B. 8 Stunden am Tag) wurde fließend. Die acht Stunden fanden teilweise morgens, nachmittags oder in einer nächtlichen Videokonferenz mit den amerikanischen Arbeitskollegen statt. Das war Stress pur und brachte viele an den Rand der Verzweiflung, denn an eine Erholung und nach draußen gehen, um wenigstens ab und zu ein „Entrainment“, eine Synchronisierung der inneren Uhren, zu ermöglichen, war kaum zu denken.
Projektkombination mit KI
Alles schon kompliziert genug, was soll da dann noch KI? Wir möchten gerne eine innovative technische Lösung als Prototyp zu entwickeln, die sich mit dem Problemfeld der zeitlichen Entkopplung menschlicher physiologischer Systeme befasst: Dabei wollen wir Schlafen, Wachen und Arbeitszeit beobachten, wobei wir physiologische Bedingungen, die für die Überwachung chronobiologischer Systeme im Verlauf täglicher Aktivitäten und Routinen entscheidend sind, messen wollen. Dazu wollen wir uns auf Sensordaten oder Parameter stützen, die beim Menschen (z.B. Hauttemperatur, Melatonin, Cortisol) und in der Umwelt (z.B. Licht) gemessen werden. Diese Sensoren sollen verschiedene Zeitbereiche erfassen und mit Hilfe eines intelligenten Algorithmus personalisierte Rückmeldungen oder Warnungen geben, um die Synchronisation zu unterstützen und Gesundheit und Wohlbefinden zu verbessern (Maniadakis et al. 2019). Hier kommt also die KI ins Spiel und kann sehr nützlich sein, wenn sie „lernt“ und die technische Lösung dem einzelnen Menschen anpasst.
Wir wollen also Technik mit dem Alltag von Menschen verbinden, um gezielte Empfehlungen geben zu können, wie Menschen einen gesunden Rhythmus leben.
Obwohl die Fortschritte in der chronobiologischen Forschung in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben, ist der potenzielle Nutzen dieser Forschung noch weit entfernt vom Leben des Einzelnen. Die Projektidee verbindet somit das Wissen aus der Chronobiologie, der Zeitforschung und das Denken in die Zukunft mit der Entwicklung einer konkreten Technikanwendung für das tägliche Leben. Die Technik soll den Druck von Anpassungen an unnatürliche Zeiteinschränkungen mindern und negative zirkadiane (tagesrhythmische) Auswirkungen auf die Gesundheit vermeiden. Dadurch soll Stress abgebaut und ein gesundes Leben durch Anpassung an das „natürliche“ individuelle Verhalten erleichtert werden, anstatt einen strengen, standardisierten Zeitplan vorzuschreiben.
Wir wollen also dazu beitragen, ein zirkadianes Syndrom, einen sozialen Jetlag oder jede andere potentielle zeitbezogene Krankheit (wie Diabetes, Bluthochdruck, metabolisches Syndrom usw.) zu vermeiden, von der wir wissen, dass sie aus der Entkoppelung der Zeitpläne des Menschen von seinen natürlichen inneren Uhren oder unzureichender Mitnahme (z.B. abweichende Hell-Dunkel-Zyklen und fehlendes Tageslicht, Rönneberg/ Merrow 2016) resultieren könnte. Deshalb wollen wir die für die Entwicklung gewählte Technologie auch in einer Laborumgebung (Zeitisolationseinrichtung) testen.
In unserem Projekt möchten wir uns auf die Lebensrhythmen der Menschen und die Zeiteinteilung in den täglichen Aktivitäten konzentrieren, die möglichst gut zu den Rhythmen des menschlichen zirkadianen Systems passen müssen.
Technik soll also an die individuellen Rhythmen des Menschen angepasst werden (Maniadakis & Trahanias, 2014). Bisher muss sich der Mensch eher an die Maschinenrhythmen anpassen, z.B. im Schichtbetrieb der Industrie, was regelmäßig (gesundheitliche) Probleme und Funktionsstörungen (wie Schlafstörungen, Bluthochdruck, Diabetes oder metabolisches Syndrom) verursacht, aber auch ein Sicherheitsproblem darstellen kann, wenn man nicht mehr aufmerksam ist.
Was soll Ihnen das sagen?
- Passen Sie gut auf sich und Ihre Rhythmen auf! Wenn sie erst einmal komplett durcheinander sind, ist es schwierig, wieder in die synchrone Struktur zu kommen.
- Wir würden gern auch in Deutschland Projekte im Alltag – z.B. im neuen Home Office Alltag – für Unternehmen durchführen. Dafür brauchen wir zweierlei: Finanzierung des Projekts und Unternehmen, die mitmachen wollen. Dafür bekommen Sie als Unternehmen exklusive Daten (natürlich anonymisiert und aggregiert) und Hinweise, wie Sie Ihre Mitarbeitenden gesund halten können.
Interesse? Dann melden Sie sich einfach bei mir: kerstin.cuhls@isi.fraunhofer.de
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