Dringender als jemals zuvor werden in den Unternehmen nun Menschen gebraucht, die diese höchst herausfordernden Zeiten des Umbruchs meistern. Hier kommen die „Street Smarts“ ins Spiel. Mit frischen Gedanken und unkonventionellen Vorgehensweisen sind sie erste Wahl.
Corona hat uns auf brutale Weise gezeigt, wie fragil unsere weltweiten Ökosysteme längst sind. Gewissheiten gibt es für nichts und niemanden mehr. Unerwartete Ereignisse lauern an jeder Ecke. Wir wissen nicht, ob oder wann sie kommen, doch wenn, dann kommen sie schnell. Sie werden Risiken und Chancen ganz neu verteilen. Nur die wendigen, flinken, pfiffigen, jederzeit anpassungsfähigen Marktplayer mit unkonventionellen Ideen kommen da durch.
So wird die Krise die Mindsets der Unternehmen verändern. Sie werden digitaler sein, zudem auch agiler und adaptiver.
Das Management wird verstanden haben, wie wertvoll die Mitarbeiter*innen wirklich sind, wie engagiert und verantwortungsvoll sie sich zeigen, wenn man sie unternehmerisch miteinbezieht und tatsächlich selbstorganisiert arbeiten lässt. Es braucht eben genau nicht für alles den Segen „von oben“.
Die Krise hat den Führenden zudem gezeigt, wie schnell es notwendig werden kann, Pläne, übliche Verfahren und tradierte Vorgehensweisen über Bord zu werfen. Rasche, neue, quere Entscheidungen? Geht! Spontan, unkompliziert, unbürokratisch? Geht! Die Zeit eines veralteten hierarchischen Topdown-Gehabes mit all ihren Geht-nicht-Sagern ist nun vorbei. Sie werden „danach“ keine Argumente mehr haben.
Keine Zeit für Demagogen und Autokraten
Werden die Dinge um uns herum immer komplexer und können wir das aus eigener Kraft nicht mehr steuern, breitet sich eine zunehmende Verunsicherung aus, wenn nicht sogar Angst. Ratlos suchen wir nach Orientierung – und gern auch nach einer starken Hand. Viele sind in Phasen des Umbruchs anfällig für die Heilsversprechen derer, die lauthals verkünden, zu wissen, wie man dem Schlamassel entkommt.
Es ist die Zeit der Demagogen und Autokraten. Davor kann ich nur warnen. Zwar ist es ein uralter Menschheitstraum, dem einen zu folgen, der angeblich weiß, wo es langgeht, und der damit alle rettet. Solche Heldentaten werden gerne weitererzählt und schließlich zum Mythos. Von all denen jedoch, die mit ihrer Herde in die Irre gelaufen und in den Abgrund gestürzt sind, von denen hört man so gut wie nichts.
Der „einzig wahre“ Weg lässt sich höchstens dann klar erkennen, wenn es eine hohe Plan- und Steuerbarkeit gibt und die Dinge sich nur langsam und vorhersehbar ändern.
Geregelte Vorgehensweisen sind in überschaubaren und zugleich repetitiven Kontexten durchaus sinnvoll. In einer komplexen Welt hingegen, in der Veränderungen sprunghaft und total unerwartet kommen, sind Command & Control-Attitüden völliger Unfug.
Alles Starre zerbricht schon beim kleinsten Ansturm
Immer dann, wenn Anforderungen, Entwicklungen, Umfelder, Auswirkungen und so fort nicht deterministisch erfasst werden können, machen Vorgaben von oben keinen Sinn. Je mehr Unsicherheit vorherrscht, desto eher ist ein agiles Vorgehen gefragt. Agil ist der Gegenpol von schwerfällig, träge, unbeweglich – also wendig, biegsam, mobil, adaptiv. Weich und flexibel, das macht ein System bei Druck von außen robust. Alles Starre hingegen zerbricht schon beim kleinsten Ansturm.
Statt also Entscheidungen, wie in Linienorganisationen üblich, „nach oben“ zu verlagern und durch langatmige Genehmigungsschleifen zu schicken, werden diese besser autonom dort gefällt, wo sie anfallen. „Kompetenzen und Verantwortung zusammenführen“ nennt man dieses Prinzip. Die parallele Einführung agiler Arbeitsmethoden sorgt für eine hohe Flexibilisierung und beschleunigte Arbeitsweisen.
Die Führung gibt dabei nur noch die grobe Marschrichtung vor. Und sie definiert Grenzen, die wie die Umrandung eines Fußballplatzes den Rahmen des Zusammenspiels definieren.
Das Schlechteste, was man bei steigendem Außendruck machen kann – doch zugleich leider üblich: Daumenschrauben anziehen und den hierarchischen Innendruck stramm erhöhen.
Das beste stattdessen: Sich locker machen wie beim Sport vor dem Wettkampf, Leichtigkeit und Lebendigkeit in die Bude bringen und die Teams selbstorganisiert fliegen lassen. Dabei müssen die Führenden zunächst akzeptieren, dass nicht ihre eigene Meinung das Maß aller Dinge ist, sondern dass es auch andere, sogar weitaus bessere Wege zu einem vorgesehenen Ziel geben kann.
Zwischen Typ1- und Typ2-Entscheidungen differenzieren
Gibt es überhaupt gute Gründe für einsame Chefentscheidungen in operativen Belangen? Ja, und zwar sind das Situationen, die blitzschnelles Handeln erfordern. Geben Sie Ihren Leuten in solchen Fällen eine Begründung, weshalb es zu einer solchen Entscheidung kam. Ansonsten unterscheiden wir zwischen strategischen und operativen Initiativen, und damit auch zwischen Entscheidungen von Typ 1 und Typ 2:
- Typ-1-Entscheidungen: Das sind strategische Entscheidungen. Diese haben einen langfristigen Zeithorizont mit weitreichenden Konsequenzen, wie etwa Expansionsvorhaben oder neue Technologien. Dabei geht es um die großen Zusammenhänge im Marktgeschehen, um langfristige Perspektiven, um juristische Haftungsgründe, um Finanzimplikationen usw., die für die Unternehmenssteuerung maßgeblich sind. Solche Entscheidungen gehören in den obersten Führungskreis.
- Typ-2-Entscheidungen: Das sind Entscheidungen von operativer Bedeutung. Sie werden eigenverantwortlich und selbstorganisiert dort getroffen, wo sie hingehören: dort, wo die wirklichen Fachleute sitzen, dort, wo man ganz nah am Kunden ist, und dort, wo man beim kleinsten Hinweis auf Fehler zügig nachsteuern kann. Fast alle operativen Fragestellungen kann ein Team besser und schneller beantworten als ein Vorgesetzter weit weg vom Schuss.
Sprich: Bei Typ2-Entscheidungen sind nicht formale Machthierarchien entscheidend, sondern praktische Sachkompetenz. Und das macht die Zeit reif für Street Smarts.
Book Smarts und ihre Methoden passen nicht mehr
Book Smarts, die High Potentials der Old Economy, werden im Zuge des Wandels von den Street Smarts abgelöst, wie der Bestseller-Autor Scott Berkun schon vor Jahren vorausgesagt hat. Book Smarts sind diejenigen, die Zusammenhänge theoretisch verstehen und ausgezeichnet analysieren. Sie setzen auf Wissen und Logik und malen sich vom Schreibtisch aus eine perfekte Landkarte einer nicht so perfekten Welt.
Im Zahlengewusel der Dashboards bleibt ihr gesunder Menschenverstand oft auf der Strecke. Balken, Torten und Diagramme sind ihre Realität. Mit dem gleichen Management-Standardrepertoire, das alle von der Uni her kennen, wird die gesamte Unternehmenswelt unreflektiert überschwemmt. Denn ja, leider schicken die meisten Business-Schools und BWL-Fakultäten ihre Absolventen noch immer mit Methoden aus dem letzten Jahrhundert in eine sich dramatisch verändernde Wirtschaft.
Natürlich ist Bücherwissen nicht grundsätzlich schlecht. Problematisch ist nur, wenn man abstrakte Kenntnisse wie eine Schablone benutzt, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie man sein Vorgehen auf eine jeweilige Situation passgenau überträgt. Checklisten und Prozesse nach Plan geben Book Smarts jedoch das Gefühl, alles im Griff zu haben. „Gebrauchsanweisungssüchtig“ nennt man das auch.
Street Smarts haben den Book Smarts sehr viel voraus
Street Smarts sind diejenigen, die sich auf dem Weg durch den „Dschungel“ nicht auf eine Landkarte verlassen. Sie wissen, dort hilft sie rein gar nichts. Sie leiten Lösungen aus bereits gemachten Erfahrungen ab oder konsultieren ihr Netzwerk, quasi das Wissen der Straße. Und dieses steht nicht im Wöhe, der Bibel der Betriebswirtschaftslehre.
Mit Lehrbuchwissen kommt man heute nicht weit. Denn die Wirklichkeit ist immer anders.
Book Smarts, Stubenökonomen nennt man sie auch, agieren in einer abgeschotteten Welt. Sie analysieren und analysieren. Und das dauert und dauert. So verplempern sie wertvolle Zeit, die in Zukunft niemand mehr hat. „Paralyse durch Analyse“ ist in Managementkreisen ein geflügeltes Wort. Book Smarts hocken zudem auf Knowhow, das in Zukunft kaum noch was wert ist. Zu schnelllebig sind die benötigten Expertisen.
Niemand ist heute mehr „aus“gebildet. Wenn Wissen schneller veraltet als jemals zuvor, dann ist Vorratslernen nur noch marginal sinnvoll. Street Smarts wissen das ganz genau. Werden Informationen benötigt, um an ein neues Thema heranzugehen, dann warten sie nicht bis zum nächsten Lehrgang. Sie starten vielmehr flugs eine Online-Recherche. Sie sind einfallsreich, veränderungsinteressiert und komplexitäts-erfahren. Genau das ist es, was die fortschreitende Digitalökonomie heute und morgen braucht.
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Hallo Thomas,
danke für Ihren Kommentar. Im Wirtschaftsleben ist tatsächlich ein Sowohl-als-auch sinnvoll, allerdings nicht im Sinne von Kompromiss, sondern im Sinne von situativ das Beste aus beiden Welten. Gerade jetzt in der Krise und auch danach wird frisches neues flottes adaptives Denken und Handeln gebraucht – eben das der Street Smarts. Mit typischer Book Smart Denke wie: das haben wir immer schon so gemacht …. das haben wir an der Uni so gelernt …. so geht das nach Lehrbuch … usw. kommen wir in diesen und zukünftigen Zeiten ganz gewiss nicht sehr weit. Hingegen ist echtes Erfahrungswissen überaus wertvoll.
Hallo Anne,
danke für diesen, aus meiner Sicht, sehr anregenden Beitrag.
Folgende Fragen entstehen in mir daraus:
• Was wäre, wenn uns sowohl ein Lernen aus traditioneller Literatur helfen würde, als auch ein Wissen, welches ich durch achtsame Beobachtung täglicher Realität erwerbe?
• Was wäre, wenn traditionelle Organisationen und Start-Ups von der Vielfalt beiden Qualitäten profitieren könnten?
• Wie können wir als Berater sprachliche Angebote machen, dass sich sowohl die smarts oder die Führungsrollen der einen Qualität, wie auch die der anderen Qualität gewertschätzt und weiter-gebildet fühlen?
Nochmals vielen Dank für diesen schönen Impuls.
Thomas