Wir, das Gründungsteam, arbeiteten bereits viele Jahre in einer klassisch hierarchisch-organisierten Firma zusammen und bildeten dort einen digitalen und agilen Kern. Zu Beginn unserer eigenen Unternehmung stellten wir uns die Frage, welche Organisationsform zu unserem Team am besten passen könnte. Wir wollten eine Organisationsstruktur etablieren, die einerseits kommerziellen Mehrwert schafft, MitarbeiterInnen motiviert und die Zusammenarbeit mit Kunden verbessert.
Zum anderen sollten unsere KollegInnen die Möglichkeit bekommen, bei allen Entscheidungen mitzuwirken und unternehmerische Perspektiven einzunehmen. Als Gründer von Alvary entschieden wir uns dazu, unsere Arbeit durch die „Macht der Kreise“ zu organisieren und starteten eine auf uns angepasste Form der Holokratie, eine Holacracy Light. Unserer Meinung nach bot sie die beste Möglichkeit für einen Neubeginn.
Die KollegInnen – Entscheidungsgewalt in der Holacracy Light
Die Organisationsform hat sich mittlerweile etabliert und unsere KollegInnen bewerten sie grundsätzlich positiv. Wie in der Holokratie vorgesehen, werden operative und taktische Entscheidungen in wöchentlichen Terminen gemeinsam getroffen. Dabei können die KollegInnen in ihren Kreisen Ideen und Anregungen zur Verbesserung vorbringen.
Wir haben mit der Zeit allerdings gelernt, dass ein demokratisches Modell nicht bedeutet, dass jeder Kollege/jede Kollegin seinen/ihren Einfluss wahrnimmt und als UnternehmerIn agiert.
Einige unserer KollegInnen wollen sich allein auf ihren Aufgabenbereich konzentrieren und gute Arbeit leisten. Das bedeutet, dass nicht jeder/jede automatisch Entrepreneur sein möchte und an jeder Entscheidung seines Kreises mitwirkt. Dem gegenüber haben sich andere Personen im Team hervorgetan, die sich besonders stark für die fachliche und organisatorische Weiterentwicklung des Teams einsetzen.
Auf der anderen Seite mussten sehr extrovertierte und meinungsstarke KollegInnen lernen, sich auch mal zurückzuhalten. Am Ende muss sich jeder die Frage stellen, ob eine Entscheidung die eigene Arbeit beeinflusst, und wie wichtig es ist, an dieser Entscheidung beteiligt zu sein.
Kurze Wege zu unseren Zielen
Bei drängenden Entscheidungen, wie beispielsweise Einstellungs- oder Projektfragen, wurde uns bewusst, dass wir bei Alvary eine Fast Lane brauchen. Wir wollten einen Weg für kurzfristige Entscheidungen finden, um nicht auf die Abstimmung der wöchentlichen Kreis-Besprechung warten zu müssen. Die Entscheidung für eine solche Fast Lane trafen wir in einer der monatlichen Governance-Besprechungen. In diesen Besprechungen werden gemeinsam Vorschläge diskutiert und entschieden, die die gesamte Organisation betreffen (“Muss es für das neue Büro wirklich der teure Betonfußboden sein?”). Kontinuierlich versuchen wir in den Meetings anhand vorbereiteter Vorschläge unsere Organisation zu hinterfragen, gute Aspekte zu verstärken und laufende Prozesse („An die Low Voice Policy im Open Space Office hält sich immer noch keiner”) zu verbessern.
Für die Entscheidungsfindung ist es sehr hilfreich, dass immer mehr KollegInnen aktiv Vorschläge unterbreiten und bereits im Vorfeld der Meetings Mehrheiten organisieren. Das zeigte sich unter anderem bei dem Thema Gehaltstransparenz. Im Rahmen einer Governance-Runde entschieden wir uns dazu, dieses Thema bei Alvary traditionell zu handhaben: Nur ausgewählte Positionen sollten damit betraut sein, Gehälter einzusehen und diese zu verhandeln – unter dem Vorbehalt, in einem vorgegebenen Rahmen bleiben zu müssen.
Der Kunde – jede Medaille hat zwei Seiten
Besonders in der Zusammenarbeit mit Kunden entpuppt sich das Aufeinandertreffen verschiedener Welten manches Mal als Herausforderung. Es stellt sich für uns die Frage, wie weit wir unsere organisatorischen Grundsätze nach außen tragen wollen und an welchen Stellen wir andere Ansichten gelten lassen. Dies hängt letztendlich davon ab, wie offen und empfänglich der Kunde für ein alternatives Organisationsmodell ist und ob es den Kunden voranbringen kann.
Zwei Beispiele:
- Das Ziel eines Projekts war der Aufbau einer digitalen Plattform. Die Mitglieder des Projektteams kamen aus drei verschiedenen Unternehmen: Kunde, Zulieferer und aus unserem. Vorgaben gab es auf Kundenseite in Bezug auf Schnittstellen und technischen Regularien. Wie sich das Projektteam seine Arbeit organisierte, war von der Leitung freigestellt. Wir entschieden uns dazu, die Vorteile aus den drei Unternehmensstrukturen zu bündeln und in eine Form bringen, sodass jedes Teammitglied Einfluss auf den Projektfortschritt nehmen konnte.
- In einem anderen Projekt wurden wir als neues Team in eine bestehende agile Struktur eingegliedert und bekamen den Auftrag, das gesamte Projekt datengestützt zu begleiten, Datenquellen aufzutun und Insights aus allen verfügbaren Daten zu generieren. Wir bemerkten schnell, dass unsere Arbeitsweise in den vorhandenen Strukturen zunächst aneckte. Da Colocation vorgegeben war, mussten immer mehr KollegInnen vor Ort sein. Nach einer Weile konnten wir die anderen Teams von den Instrumenten zur Remotearbeit wie Chat, Video Calls oder einfach das Telefon überzeugen. Schwieriger war es in einer übergreifenden Funktion, an die anderen Teams im Projekt Aufgaben zu verteilen und ihre pünktliche Bewältigung sicherzustellen. Es forderte uns heraus, die etablierten (und hart erkämpften) Strukturen und Arbeitsweisen zu respektieren und sich an sie anzupassen.
An diesen Beispielen lernen wir, wann es hilft zu „missionieren“ und wann es besser ist, sich in „klassische“ Strukturen einzugliedern – wenn es dem Fortschritt der Arbeit dient.
Nach außen treten wir ebenfalls unterschiedlich auf. Auch wenn unsere Organisation keine Chefs im klassischen Sinne hat, ist es für viele Kunden beruhigend zu wissen, dass es erfahrene KollegInnen gibt, die Projekte adäquat steuern können. In solchen Fällen bezeichnen wir Personen durchaus als Lead, Director oder Chef, um den Erklärungsaufwand gering zu halten.
Grenzen und Zukunft
In den letzten zwölf Monaten hat sich die Anzahl der MitarbeiterInnen von Alvary von zehn auf 20 verdoppelt. Die meisten der neuen KollegInnen kommen aus einer hierarchisch-organisierten Organisation. Sie müssen unsere Holacracy Light mit all ihren Möglichkeiten und Tools zunächst kennenlernen: Zum Kennenlernen aller Mechanismen hat sich eine Powerpoint-Präsentation bewährt. Die Grenzen bei weiterem Wachstum sind jedoch jetzt schon vorherzusehen. Zukünftig müssen wir uns fragen, ob die bisherige Rollenkarte zu einem neuen Mitarbeiter/einer neuen Mitarbeiterin passt und er/sie sie wahrnehmen kann, und wie neue KollegInnen gefördert werden müssen, um sich in einer Holokratie und einem agilen Arbeitsumfeld einbringen zu können.
Wie geht es mir Alvary weiter? Zum einen gibt es den Plan, die Softwarelösung von Alvary als Open-Source-Angebot weiterzuentwickeln, um bei Kunden Vertrauen in die Datenanalyse-Technologie aufzubauen und anderen EntwicklerInnen die Möglichkeit zu bieten, zu der Lösung beizutragen. Zum anderen wollen wir die Vernetzung mit anderen Firmen und EntwicklerInnen weiter voranbringen. Dafür haben wir Anfang Juli 2019 den Alvary Co-Working-Space in Hannover eröffnet. Hier können kleine Partner direkt entwickeln oder EntwicklerInnen ihre Ideen entfalten.
Das haben wir gelernt:
Von unseren Erfahrungen mit der Holacracy Light bei Alvary können wir folgende Learnings ableiten:
- Nicht jeder Kollege/jede Kollegin muss alles mitgestalten (wollen)
- Self-Empowerment kann nicht diktiert werden
- Bottom-up trägt nachhaltig zum Verständnis von Entscheidungen bei und stellt Transparenz sicher
- Barrieren aus traditionellen Arbeitsstrukturen müssen umgedacht werden
- Hilfe zur Selbsthilfe ist ein normaler Vorgang
- Holokratie-Organisationen müssen sich auch (als hybride Organisation) an traditionelle Organisationsmodelle anpassen, zum Beispiel in Kundensituationen
- Wir können damit leben, wenn wir (im Rahmen eines Meetings) nicht zu einem mehrheitsfähigen Ergebnis kommen (Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut)
Am Anfang des Jahres hatte die AutorInnen Jochen Hülß, Knut Linke und Margarethe Höhne bereits für den Booksprint „Vereinbarkeit 4.0” einen Beitrag zur Holokratie bei Alvary geplant. Leider konnte dieser Beitrag aus zeitlichen Gründen nicht rechtzeitig fertig gestellt werden. Wir wollen ihn jedoch nun noch zu Verfügung stellen. Im Beitrag beschreiben die AutorInnen, wie Alvary Holacracy Light definiert, und bieten weitere Informationen zur Unternehmensorganisation und -steuerung im Rahmen einer Holokratie.
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Alvary wurde 2018 von einer Gruppe Professionals aus der Digitalindustrie gegründet. Mithilfe von Dienstleistungen und Technologien bieten wir Lösungen für Real Time Data Analytics an. Jeder von uns kann aus einem großen Erfahrungsschatz in den Bereichen Nutzeranalyse und Onlinedaten schöpfen.
Holokratie (auch Holakratie) ist eine von dem Unternehmer Brian Robertson aus Philadelphia (USA) in seiner Firma Ternary Software Corporation entwickelte Systemik, die Entscheidungsfindungen „mit durch alle Ebenen hindurch gewünschter Transparenz und partizipativen Beteiligungsmöglichkeiten“ in großen Netzwerken und vielschichtigen Unternehmen eine günstige Struktur gibt. (s. Wikipedia), Anm. der Redaktion
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Vieles in diesem Artikel kann ich nachvollziehen, habe es aber schon vor 25 Jahren gelebt und frage mich, wieso dies in Deutschland erst jetzt thematisiert wird. Im Bemühen mir meine eigene Frage zu beantworten, denke ich, dass die Leute, die dies heute erleben, noch nach altem Muster geschult worden sind – so wie ich damals auch. Wieso ist die Schulung in Deutschland heute noch nicht anders? Ich habe dies auch schon im Gespräch mit deutschen Studenten festgestellt und bin erstaunt wie sehr sich die Lerninhalte in Deutschland von anderen Ländern unterscheiden.