Wir haben den Eindruck, dass in der digitalen Themensphäre wiederholte Neuerfindungen des Rades an der Tagesordnung sind. Daher haben wir uns entschlossen, hier auf dem Blog die Rubrik #Schulterblickzukunft einzufügen, die auf solche älteren Beiträge Bezug nimmt und damit letztlich auch die Vordenker:innen der Vergangenheit besser würdigt. Beiträge wie der nachfolgende sind offenkundig auch nach einem Vierteljahrhundert noch immer aktuell.
Das wiederum lässt ahnen, wie langsam bei uns die Mühlen mahlen, denn auf dem Gebiet der Informationstechnik herrscht in Deutschland Schwerfälligkeit, Risikoscheu und Innovationsfeindlichkeit – und zwar seit Jahrzehnten. Eine Folge dieser Tatsache hat der Branchenverband Bitkom in einer gestern (18. Feb. 2021) vorgestellten Studie hervorgehoben: Es gibt in Deutschland inzwischen praktisch kein Unternehmen mehr, das bei Hardware, Software oder digitalen Dienstleistungen nicht hochgradig vom Ausland abhängig ist. Deutschland hat bei der Digitalisierung den Anschluss und die Souveränität verloren. Ursachen für diese industriepolitisch gefährliche Entwicklung gehen zurück bis in die 70er Jahre. Seit dieser Zeit und bis etwa Anfang der Nuller Jahre wurden bei uns vielerorts Computer (und alles was damit zusammenhängt) regelrecht bekämpft – so wollten seinerzeit auch manche Vorstandsmitglieder der IG-Metall die Veröffentlichung des nachfolgenden im Februar 1997 geführten Interviews verhindern.
Noch Anfang der achtziger Jahre sprachen sich Gewerkschaften gegen die Telearbeit aus, manche forderten sogar ein Verbot. Mittlerweile ist jedoch ein Sinneswandel zu verzeichnen. teleworx sprach mit IG Metall-Vorstand Ulrich Klotz.
teleworx: Spricht man heute im Zusammenhang mit Telearbeit noch immer von „elektronischer Einsiedelei“ oder hat hier bereits ein Umdenken angefangen?
Klotz: Ganz sicher ist das Thema „soziale Isolation“ für manche Telearbeiter noch immer von Bedeutung, aber insgesamt gesehen haben sich die Gewerkschaften bereits vor Jahren von einer derart pauschalen Bewertung verabschiedet, denn das Interesse der Beschäftigten an neuen Arbeitsformen, die ihnen größere Flexibilität und Autonomie ermöglichen, nimmt stetig zu. Inzwischen hat man/frau auch mehr praktische Erfahrungen mit Telearbeit Es wird klarer, daß Telearbeit neben Risiken auch vielfältige Chancen bietet. Allerdings bedarf es hier und da noch beträchtlicher Aufklärungsarbeit, beispielsweise durch Gewerkschaften, denn bei der Einrichtung von Telearbeitsplätzen wird oft noch ziemlich viel falsch gemacht.
Welches sind denn die gravierendsten Fehler, die Ihnen dabei begegnen?
Klotz: Oft passieren organisatorische Fehler bei der Einführung. Ich halte es beispielsweise für falsch, wenn man Menschen vor die Alternative stellt, entweder nur im Büro oder nur zu Hause zu arbeiten – etwa, um Bürokosten zu reduzieren. Da wird dann lediglich ein alter Zwang durch einen neuen ersetzt, das führt uns nicht weiter. Stattdessen sollte man alternierende Formen der Telearbeit praktizieren, bei denen die Beschäftigten selbst entscheiden können, wann sie wo arbeiten und wann sie sich gemeinsam treffen. Und sicherlich ist es auch hilfreich, in Pilotphasen erst einmal Erfahrungen zu sammeln, statt gleich vollendete Tatsachen zu schaffen.
Daneben sind auch immer wieder Fehler bei der Auswahl und Gestaltung der Technik, insbesondere bei der Software, zu beobachten. Es ist ja oft schon schlimm genug, was den Menschen im Büro an Programmen zugemutet wird. Wenn jemand mit ergonomisch grauenhafter Software aber zu Hause alleine gelassen wird, dann grenzt das oft schlicht an Körperverletzung. Und daß Arbeitssituationen mit dem PC auf dem Küchentisch und dem Kleinkind auf dem Schoß – wir kennen ja die Werbefotos nicht die sonstigen ergonomischen Anforderungen erfüllen, sollte eigentlich längst klar sein. Ist es aber oft nicht, denn mitunter befindet sich die Infrastruktur und das Umfeld in einem katastrophalen Zustand, der vernünftiges Arbeiten kaum zuläßt.
Eine Produktivitätssteigerung läßt sich nur erreichen, wenn das Umfeld am Arbeitsplatz stimmt unabhängig davon, wo sich dieser befindet. Deshalb sind die Unternehmen gut beraten, wenn sie in ihrem eigenen Interesse hier nicht an der falschen Stelle sparen.
Ist dies ein Grund, warum viele Betriebsräte der Telearbeit immer noch skeptisch gegenüberstehen?
Klotz: Das sind einige der Gründe, es gibt aber noch mehr Bedenken, etwa arbeitsrechtlicher Art. Die meisten Betriebsräte gehen aber heute ziemlich pragmatisch und durchaus konstruktiv mit dem Thema Telearbeit um. Natürlich verliert ein Betriebsrat an Einfluß, wenn immer mehr Beschäftigte außerhalb seines unmittelbaren Wirkungsfeldes arbeiten. Hier und da gibt es auch heftige Kontroversen – etwa gesetzlich verbrieftes Zugangsrecht zu jedem Arbeitsplatz kontra grundgesetzlich garantierter Unverletzlichkeit der Wohnung. Ich persönlich setze da vor allem auf Aufklärung, denn letztlich geht es darum, den Menschen zu helfen, sich vor sich selbst zu schützen, etwa vor Selbstausbeutung, und da helfen formale Rechtsansprüche und Stellvertreterdenken auf Dauer wenig.
Wenn es nicht der Betriebsrat ist, wer hemmt dann die Verbreitung von Telearbeitsplätzen? Schließlich liegt Deutschland erheblich hinter den Prognosen zurück.
Klotz: Gebremst wird die Telearbeit heute vor allem vom mittleren Management, etwa von Abteilungsleitern, die einen Verzicht auf Anwesenheitspflicht als Statusverlust empfinden oder die und das gibt es ja noch oft genug: Anwesenheit mit Produktivität verwechseln. Was bleibt auch von so mancher sagenannten Führungskraft übrig, wenn sie keine Untergebenen mehr um sich herum hat, die sie kommandieren kann? Statt der alten Führung nach Gutsherrenart erzwingt Telearbeit einen offeneren, ziel- und ergebnisorientierten Führungsstil, aber wer kann das schon? Bei uns herrscht doch noch ein Wertesystem, bei dem es als Fortschritt oder als Karriere gilt, möglichst viele Untergebene zu haben, dann ist man wer. Solange aber der Wunsch nach Selbstverwirklichung nicht klar an der Spitze der persönlichen Werteskala steht, werden viele Menschen lieber am Arbeitsplatz im Betrieb verharren und ihre Mitarbeiter zur Anwesenheit zwingen.
Wie sehen Sie persönlich die Chancen der Telearbeit?
Klotz: Früher oder später wird Telearbeit zu einer Normalform von Arbeit werden. Die Entwicklung geht aus von kleinen und jungen Firmen, die sich weniger mit alten Hierarchien und veralteter Technik herumschlagen. Einen weiteren Boom erwarte ich durch den Trend zum Outsourcing. Telearbeit wird oft nur ein Übergangsstadium von der abhängigen Beschäftigung in eine tatsächliche oder scheinbare Selbständigkeit bilden. So verwandeln Unternehmen fixe in variable Kosten.
Wie wirkt sich das wiederum auf die Telearbeiter aus?
Klotz: Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Wenn immer häufiger aus Arbeitsverträgen Honorarverträge werden, gerät natürlich unser gesamtes soziales Sicherungssystem ins Rutschen, denn es basiert ja auf dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis – das aber vielleicht bald gar nicht mehr so normal ist. Wenn immer mehr Menschen im Haifischbecken der Selbständigen arbeiten, dann werden wir auch immer öfter Selbstausbeutung beobachten, dann heißt es bald: „Nie mehr Feierabend“. Und dann wird sich die Arbeitswelt mehr und mehr in Gewinner und Verlierer aufspalten. Wachsende Flexibilisierung auf Unternehmensebene führt unvermeidlich zu stärkerer gesellschaftlicher Polarisierung, zu einer stärkeren Spaltung in arm und reich.
Ich halte es für falsch, wenn man die Menschen vor die Alternative stellt, entweder nur im Büro oder nur zu Hause zu arbeiten.
Ein Blick in die USA ist da lehrreich. Und wenn man begriffen hat, daß Bits in Datennetzen keine Grenzen kennen, läßt sich erahnen, was da weltweit auf uns zukommt. Wenn heute ein Programmierer in Was-weiß-ich-wo für ein Hundertstel des Honorars dasselbe leistet, wer würde es dem Auftraggeber verdenken? Grenzüberschreitende Telearbeit birgt die Gefahr eines internationalen Sozialdumpings ohne Ende.
Wie reagieren die Gewerkschaften darauf?
Klotz: Ein globaler Arbeitsmarkt erfordert globale Übereinkünfte, aber daß dies ein besonders schwerfälliges Geschäft ist, sehen wir ja schon im kleinen Europa. Hier gibt es für Gewerkschaften noch jede Menge Arbeit. Und natürlich müssen die Arbeitnehmerorganisationen auch ihr Selbstverständnis überdenken. Menschen, die in modernen Formen arbeiten, erwarten künftig vor allem konkrete Dienstleistungen und weniger Bevormundung. Ich sehe die Gewerkschaften in Zukunft nicht mehr nur als Interessenvertretungen, sondern vor allem als Forum zum Austausch neuer gesellschaftlicher Ideen.
Wenn der klassische Betrieb als Ort der Kommunikation und identifikationsstiftende Quelle verschwindet, könnten gerade die Gewerkschaften dazu beitragen, daß Menschen mit ähnlichen beruflichen oder technischen Orientierungen miteinander Kontakt halten und daß gewisse ethische Regeln gewahrt bleiben. Allerdings ist es höchste Zeit, daß wir auch selbst mit modernen Arbeitsformen praktische Erfahrungen sammeln, nur so werden wir auf Dauer als nützliche Instanz akzeptiert bleiben. Es ist schon nützlich, wenn man Dinge, über die man redet, aus eigener Erfahrung kennt. Gewerkschaftsangestellte, oder auf altdeutsch: Funktionäre, sind letztlich auch nur Informationsarbeiter, warum sollten ausgerechnet sie in Bürotürmen kaserniert bleiben?
teleworx: Herr Klotz, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Erschienen in: teleworx, Heft 4, 1997, S. 73-74. Original hier: http://bit.ly/Teleworx_97
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