Wie eine Vielzahl an Personen, arbeite auch ich seit mehreren Wochen im ‚Homeoffice‘. Distanzlehre und Austausch mit KollegInnen zu Forschungsarbeiten finden zurzeit zuhause und virtuell statt. Vor Corona und Kontaktsperre habe ich das Homeoffice oft als Rückzugsmöglichkeit genützt um ungestört zu arbeiten, dem Trubel im Büro zu entfliehen oder auch Zeit der An- und Abreise zu sparen.

Es ist Zeit Home-Office neu zu denken

Die eigenen vier Wände wurden dafür kurzzeitig zum Ort, an dem die Arbeit besser, angenehmer und schneller verrichtet werden kann. Seit Corona ist das anders. Seit Corona steht Homeoffice für viele Angestellte nicht mehr nur zur Wahl, sondern ist Pflicht. Der Wohnraum ist nicht mehr nur Schlafstätte, Ruhe-Oase oder Ort der Familie, er ist nun dauerhaft Arbeitsort.

Ich frage mich: Was macht das mit uns? Was macht das mit unserem Zuhause? Zeit, das Homeoffice neu zu denken.

Die Soziologin Susan Halford beschreibt die räumliche Mehrfach-Verortung von Arbeit, wie wir sie im ‚Homeoffice‘ erleben mit dem Begriff ‚hybrid workspace‘. Der hybride Arbeitsraum überwindet die Grenzen des organisationalen und häuslichen Raums und verbindet durch den virtuellen Raum physische Orte miteinander. Ein Arbeitsraum, der nicht nur an einer ‚Location‘, sondern an vielen verortet ist und dadurch mit Konzepten anderer Räume in ‚Konflikt‘ stehen kann. Halford argumentiert, dass diese ‚räumliche Hybridität‘ die Natur der Arbeit, die Organisation und das Management im häuslichen Raum, im virtuellen Raum und organisationalen Raum grundlegend verändert.

Personen, die von zuhause aus arbeiten, verkörpern den organisationalen Raum im häuslichen Raum. Das heißt, sie nehmen die Organisation, für die sie arbeiten, ein Stück weit mit nach Hause. Die Organisationswissenschaftler Karen Dale und Gibson Burrell sehen den organisationale Raum als ‚dominierenden‘ Raum, der unhinterfragt immer mehr Platz im häuslichen Raum einnimmt. Ihre Kollegen Robert Wapshott und Oliver Mallett hingegen verstehen den räumlichen Annäherungsprozess im Homeoffice in beide Richtungen, also dass sich das ‚Private‘ ebenso den  organisationalen Raum aneignen kann wie umgekehrt.

Mich interessiert: Wie sieht die gegenseitige Annäherung zwischen häuslichen und organisationalen Raum aus?

Was verändert sich durch das permanente Homeoffice, in dem wir uns in der Corona-Krise befinden? Wenn wir wie Halford davon ausgehen, dass die Konzepte ‚home‘ und ‚work‘ nur sozial konstruiert, also nicht fest verankert sind: Verschwimmen die Ideen von ‚home‘ und ‚work‘ im Homeoffice oder im Gegenteil: Besteht aufgrund der räumlichen Hybridität ein verstärktes Bedürfnis nach Grenzziehung?

Das Büro zieht zuhause ein

Im Homeoffice richten wir uns einen Arbeitsplatz ein. Wir versuchen unser zuhause dem Arbeitsort, wie wir ihn aus dem Büro gewohnt sind, anzupassen. Artefakte, die wir zur Arbeitserledigung benötigen, ziehen zuhause bei uns ein. Ich habe ziemlich schnell bemerkt, dass mein privater Schreibtisch viel zu klein für meine alltägliche Arbeit ist, bin also in die Küche umgezogen. Und dann weiter umgezogen in das Wohnzimmer, dann wieder zurück an meinem Schreibtisch im Schlafzimmer, da ich hier doch am ungestörtesten arbeiten kann. Hier habe ich mich jetzt mit all meinen Büchern und einem extra Sideboard eingerichtet. Zum Online-Unterrichten nutze ich jedoch den größeren Esstisch in der Küche.

Einer Kollegin von mir ging es ähnlich: Sie war unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz zuhause, also  hat sich einen Schreibtisch besorgt und ihren Bildschirm aus ihrem Büro nach Hause geholt. Sie hat sich einen Ort zuhause eingerichtet, den sie jetzt ihrer Arbeit widmet.

Abends verdeckt sie alle Gegenstände, die mit ihrem Beruf zu tun haben, mit einem Tuch, um nicht andauernd an die Arbeit erinnert zu werden.

Die Artefakte, die wir zuhause integrieren oder umfunktionieren damit sie uns eine bessere Arbeitsatmosphäre ermöglichen, sind vielseitig – das kann der bequemere Stuhl, das Flipchart, die Pinnwand oder gar das personalisierten Türschild sein. Es wird allerdings nicht nur der Wohnraum durch Artefakte zum Arbeitsplatz umfunktioniert, auch unsere Kleidung passt sich dem Büroalltag an. Um mich von Kopf bis Fuß auf die tagtägliche Arbeit einzustimmen, werfe ich mich an den Wochentagen „in Schale“ und ziehe mich so an, als ob ich zur Arbeit fahren würde – wenn auch in einer etwas gemütlicheren Variante. Wapshott and Mallett nennen diese Formen der räumlichen Nachahmung ‚Mimesis‘. Mimesis entsteht einerseits durch physische Veränderung des Raums durch Artefakte und Bekleidung, andererseits auch durch Verhaltensveränderungen, die die zeitliche und emotionale Dimension der Arbeit betreffen.

A never-ending job

Seit Corona nimmt mein Beruf gefühlt sehr viel Raum in meinem Leben ein. Ich fühle mich ständig im Arbeitsmodus. Die Abwechslung fehlt und die Nicht-Arbeitszeit ist schwer von der Arbeitszeit zu trennen. Die Rhythmen des „Wohnens“ gehen in den Rhythmen des Arbeitslebens über und umgekehrt. Die Erwerbsarbeit lässt sich für mich viel schwerer zeitlich fassen und von anderen Arbeiten trennen. Häusliche Arbeit wird nebenbei erledigt und vermischt sich mit der Erwerbsarbeit. Unterschiede zwischen Arbeitswoche und Wochenende spüre ich in meinem räumlichen Verhalten kaum mehr. Freizeitaktivitäten beschränken sich bei mir zurzeit auf sportliche Aktivitäten, ausgedehnte Spaziergänge und den Wochenmarktbesuch, der das Highlight meiner Woche darstellt. Emotionen, die normalerweise in der Arbeit „gelassen werden“, durchlebe ich jetzt zuhause. Die KollegInnen fehlen, mit denen man üblicherweise über berufliches plaudert, bei denen ich mich beschwere oder gemeinsam über Erfolge freue.

Emotionale Höhen und Tiefen

Stattdessen durchleben Personen des eigenen Haushalts mit uns nun unsere berufsbedingten emotionalen Höhe- und Tiefpunkte. In unserem Beruf schlüpfen wir häufig in Rollen, die sich von unseren privaten Rollen unterscheiden. Durch die fehlenden räumlichen und zeitlichen Abgrenzungsmöglichkeiten treffen die verschiedenen Rollenanforderungen im Homeoffice aufeinander, lösen womöglich sogar Rollenkonflikte aus. Umgekehrt, führt das Homeoffice ebenso zu einer Flexibilisierung der Arbeit. Arbeitszeiten können viel flexibler an unsere privaten Bedürfnisse angepasst werden. Berufliche und private Rollen sind schwerer zu trennen, dadurch werden berufliche Gespräche eventuell lockerer und informeller. Halford beobachtet in ihrer Studie (2005), dass durch die virtuelle Kommunikation neue Räume für Intimität geschaffen werden. Im virtuellen Raum kann man Privates teilen, ohne dass im Großraumbüro alle mithören. Gleichzeitig wird durch die Kommunikation über digitale Medien des Öfteren der private Wohnraum öffentlich gemacht und zur frontstage‘.

Von ‚Backstage‘ zu ‚Frontstage‘

Orientiert an der Metapher des ‚Theaters‘ entwickelte der Soziologe Erving Goffman das Konzept von ‚frontstage‘ und ‚backstage‘, um menschliches Verhalten und soziale Interaktion besser zu verstehen. Während ‚frontstage‘ einen sichtbaren, beobachtbaren Ort beschreibt, indem Individuen (soziale) Rollen übernehmen und kulturelle Normen und Erwartungen, die an die Rolle geknüpft sind, erfüllen, beschreibt ‚backstage‘ einen inoffiziellen Ort und an dem man sich unbeobachtet fühlt und außerhalb der Rolle agieren kann, relaxen kann. Im Homeoffice wird der private Wohnraum (‚backstage‘) zur ‚frontstage‘, indem man ihn über die Bild- und Tonübertragung z. B. durch Videokonferenzen zur Schau stellt. In den Videokonferenzen wird ein Ausschnitt des Wohnraums über die computereigene Kamera mit dem Gegenüber „geshared“. In den Lernvideos, die wir für unsere Studierenden erstellen, sieht man einen Ausschnitt aus meinem Schlafzimmer.

Der private Raum wird mit einem Mausklick öffentlicher Raum. Nicht nur der Wohnraum wird öffentlich gemacht, sondern ungeplante Ereignisse wie z. B. das Kind, das plötzlich zur Tür herein kommt oder der Mitbewohner, der im Hintergrund zu sehen ist, lassen Einblicke in unser privates Leben zu.

Bin ich zufrieden mit dem Bild von mir, dass in die virtuelle Welt hinausgetragen wird? Was denken die Kolleginnen und Kollegen über mein Poster an der Wand? Vermutlich ist es ihnen egal, doch eventuell prägt es ihr Bild von mir und meiner beruflichen Identität. Für Influencer auf YouTube und Instagram ist die Inszenierung in der digitalen Welt das Tagesgeschäft. Sie machen es uns vor, wie es anders geht, wie man sich über visuelle Darstellung sogar in Szene setzen kann.

Oft kommen mir meine Zoom-Meetings mit den Studierenden vor wie die MTV Show Cribs, in denen der Fernsehsender MTV Einblicke in die Häuser und Anwesen von Prominenten ermöglicht. Wir gewähren uns gegenseitig Einblicke in unser zuhause, nur vermutlich mit weniger Celebrity-Effekt und Impression Management. Gleichzeitig macht uns das Teilen des Wohnraums „menschlich“. Es zeigt unserem Gegenüber ein Stückchen mehr von uns, einen kleinen Ausschnitt unseres privaten Ichs.

Eine Bekannte von mir musste letztens sehr schmunzeln, als der Vorstandsvorsitzende ein Foto von sich, seinem Arbeitsplatz und seinem zuckersüßen Hund an die Mitarbeiter schickte. Das macht ihn sympathischer, meinte sie.

Wapshott und Mallett sehen in der Mimesis – also in der Nachahmung – einen Prozess, in dem durch die veränderte Funktion des Raums bestehende Bedeutungen verdrängt werden. Sie argumentieren, dass der häusliche Raum des Heimarbeitenden eine Art ‘Schlachtfeld‘ werden kann, ein Raum der Auseinandersetzung der verschiedenen Interessen und Interpretationen von Raum. Ich sehe diese Auseinandersetzung eher als eine Annäherung und Aushandlung der Grenzen, die man ziehen oder lockern möchte, beispielsweise durch die (Nicht-)Verwendung von persönlichen oder beruflichen Artefakten, durch Kleidung, durch strengere oder lockere Zeiteinteilung oder Ortswechsel.

In der Corona-Krise Wohn- und Arbeitsraum neu denken?

Mir blieb der Kommentar von Tommi Schmitt vor ein paar Wochen im Podcast ‚Gemischtes Hack‘ zum Thema Wohnsituation in der Corona-Krise in Erinnerung. Er meinte: „Wir wohnen jetzt mal richtig“. Wir verbringen mehr Zeit zuhause und spüren die Distanz zu anderen Orten und Räumen stärker. Diesen Zustand könnten wir zum Anlass nehmen, Räume und Orte, die wir bisher unhinterfragt genützt haben, wie zum Beispiel unser Büro, das Unigebäude, den Sportplatz oder unser Schlafzimmer, neu zu betrachten. Wir könnten kurz innehalten und auf die Orte unseres Lebens blicken und deren Qualitäten, die sie für uns haben, herausarbeiten. Welche räumlichen und sozialen Gegebenheiten unterstützen meine Konzentration am besten, welche meine Kreativität? Welche Orte sollen privat bleiben, welche möchte ich öffentlich machen? Wo und wann schätze ich Austausch, wo Privatsphäre? Wie viel Beruf darf zuhause sein, wie viel „Wohnen“ und „Privates“ möchte ich an den Arbeitsort mitnehmen? Wenn ‚home‘ und ‚work‘ nur soziale Konstruktionen sind, inwiefern möchte ich die Grenzen zwischen den Konzepten aufrechterhalten, wo können sie ineinanderfließen?

Die Corona-Krise gibt uns die Möglichkeit diesen Fragen nachzugehen und unsere Lebensräume neu zu denken.

 

 

Referenzliteratur: 

  • Dale, Karen; Burell, Gibson (2008): The spaces of organisation and the organisation of space: Power, identity and materiality at work. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
  • Goffman, Erving (2002): The presentation of self in everyday life. 1956. In: Garden City, NY 259.
  • Halford, Susan (2005). Hybrid workspace: re-spatialisations of work, organisation and management. New Technology, Work and Employment, 20(1), 19–33.
  • Halford, Susan (2006): Collapsing the Boundaries? Fatherhood, Organization and Home-Working. In: Gender Work & Org (13).
  • Wapshott, Robert, & Mallett, Oliver (2011). The spatial implications of homeworking: A Lefebvrian approach to the rewards and challenges of home-based work. Organization, 19(1), 63–79.

2444 mal gelesen