Kennen Sie das “Braess-Paradoxon”? Nein? Dabei stammt es aus Deutschland, von gleichnamigem Mathematiker, der es 1968 nachwies. Aber vielleicht kennen Sie es als Zitat: “Säet Straßen und ihr werdet noch mehr Verkehr ernten.”? Was paradox klingt, wurde wissenschaftlich von Dietrich Braess belegt: Der Bau einer zusätzlichen Straße führt bei gleichem Verkehrsaufkommen zur Erhöhung der Fahrtdauer für alle. Wikipedia nennt Beispiele aus der Praxis:

1969 führte in Stuttgart die Eröffnung einer neuen Straße dazu, dass sich in der Umgebung des Schlossplatzes der Verkehrsfluss verschlechterte. Auch in New York konnte das umgekehrte Phänomen 1990 beobachtet werden. Eine Sperrung der 42. Straße sorgte für weniger Staus in der Umgebung. Gleichermaßen verbesserten sich 2005 Verkehrsfluss und Fahrzeiten in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, nachdem eine vierspurige querungsfreie Stadtautobahn abgerissen worden war. Schlagen Sie mal die tollen Bilder nach, die es dazu gibt. Echter Stadtraum, der neidisch macht!

Haltung heißt: Hinterfragen! lassen.

Was hat aber nun dieses Paradoxon mit meinem Gedanken zur Haltung zu tun? Ich las gestern diesen Artikel zum geplanten Neubau einer neuen Rheinbrücke – und fragte mich: Werden vor dem Hintergrund von Klimakrise und Verkehrswende solche großen Infrastrukturprojekte heute nicht automatisch überprüft? Denn: Die Brücke führt durch ökologisch sehr empfindliches Gebiet und – so hoffe ich doch – in wenigen Jahren wird es sehr viel weniger Individualverkehr und innovative, nachhaltigere Lösungen zur effizienten LKW-Logistik geben. Braucht es da Neubauten oder vielmehr engagierte Instandhaltung? Immer wieder stolperte ich 2019 über die Feststellung:

Es wird sich am Status Quo geradezu sklavisch festgehalten. Er wird nicht hinterfragt, obwohl wir aktuell enorm viele gute Gründe haben, das zu tun.

Und hier fängt das Thema “Haltung” meiner Meinung nach an. Wir scheinen uns nicht wohl damit zu fühlen, gestalten zu können oder es gar zu müssen. Wir strapazieren den Begriff der enkeltauglichen Zukunft, treiben aber weiter das Hamsterrad von Wachstum und Gewinnen an. Na klar, das ist uns über Jahrzehnte so vorgelebt und eingetrichtert worden. Aber genau das brachte uns ja in die Klimakrise. Wir müssen hinterfragen, was wir tun. Aber dazu bedarf es nicht nur des eigenen Engagements, sondern – in beruflicher Hinsicht – auch der Unternehmen, die diese konstruktive Haltung zur eigenen Arbeit und der des Arbeitgebers anregen.

Unser heutiges Koordinatensystem ist nicht zukunftsfähig

Wenn wir uns mit den “Werten” von Wachstum weiter in die Zukunft bewegen, wird es so sein, als hätten wir eine Karte aus dem 19. Jahrhundert und wollten uns im heutigen Hamburg bewegen.

Die Zukunft ist längst schon da.

Wir MÜSSEN unser vertrautes Koordinatensystem zum Teil neu justieren, sonst verlieren wir nicht nur den Überblick, sondern gehen im schlimmsten Fall sogar in die falsche Richtung – nämlich rückwärts. Und genau das gibt auch mein Gefühl von 2019 in Sachen Mobilitätswandel wieder. Es ist nicht so, dass nichts passiert wäre, aber viel wurde wieder verzagter. Große Player haben den Markt wieder verlassen oder sich mehrjährige Expansionpausen verordnet, um “Verluste zu vermeiden”. Aber wird der Mobilitätswandel ohne geldwerte Verluste zu starten sein? Sollten in Sachen klimarettende Verkehrswende nicht andere Währungen zählen wie z. B. der ökologische Gewinn für die Gemeinschaft? Braess sagt es – in meinen Worten – mit seiner Theorie deutlich aus:

Da, wo jedeR nur an sich denkt, wird es am Ende allen schlechter gehen, weil der Schaden des Gemeinwohls immer ein individueller ist – auch wenn sich der Gewinn (in der Vorausschau) zunächst sehr groß für das Individuum anfühlt.

Etwas viel Theorie, oder? Gehen wir mal in die Praxis der hiesigen Unternehmen – und ja: Dieser Eindruck ist meiner und ich stelle in gern zur Diskussion.

Unternehmenskultur – Rolle rückwärts oder der echte Mut, loszulassen?

Ich habe mit viel mehr Menschen als sonst in den Jahren zuvor über “mein Jahr 2019” gesprochen. Wurde gefragt, wie anstrengend es eigentlich ist, sich für das Thema Verkehrswende einzusetzen und dabei auch immer zuverlässig die Thema Diversität und neue Arbeitsformen anzubringen. Ob das nicht ein paar Baustellen zuviel seien? Sie sehen mich nicken: Ja. Es ist enorm anstrengend. Aber ich sehe einfach keine Chance, diese Themen voneinander zu trennen. Und ja: Gerade das Thema der neuen Mobilität jenseits des privat besessenen PKW ist ein völliges Filterblasen-Thema, das sehe ich aktuell bei meinen Tagen im Emsland. Hier gibt es keinen gut ausgebauten ÖPNV, es gibt aber auch kaum Menschen, die diesen fordern, weil vor jedem Eigenheim gleich mehrere Autos stehen. Also: Ad hoc Mobilität ist vorhanden. Immer. Und natürlich ist hier dementsprechend weder Parkdruck noch Stau ein Thema.

Dennoch muss auch die Mobilität in Mittelzentren und kleineren Städten sich verändern. Und hier kommen wir wieder zum Thema Haltung. Da, wo die Änderung stattfinden muss, wird sich stets zunächst Widerstand regen. Weil Verbote und Verzicht bei uns negativ belegt sind. Unsere Freiheit ein hohes Gut ist. Wir unsere Privilegien nicht gefährdet sehen wollen, auch, weil wir diese zum Teil als gegeben wahrnehmen – und nicht als “ungerecht, aber vor allem an uns verteilt”. Es müssten also sehr viele Fragen gestellt werden, von möglichst vielen, um möglichst viele in unserer Gesellschaft in der Zukunft, die wir ab heute bauen müssen, zu berücksichtigen. Und das beginnt bei den Unternehmen, die Auto- und andere Mobilität gestalten.

Hat sich hier viel getan, damit Mitarbeitende als echte Ressource des Wandels sehen können, so sie es denn wollen?

Die benannte Gallup-Studie hat für 2018 festgestellt, dass sich 1/3 der Angestellten trotz schwerer Bedenken gegen das unternehmerische Handeln ihre Meinung dazu in den letzten 12 Monaten nicht geäußert haben. Man kann dies als mangelnde emotionale Bindung zum Unternehmen oder als Angst vor offen geäußerter Einschätzung deuten. Im schlimmsten Falle trifft beides zu.

Haltung bedeutet: Elitenwissen und -handeln abgeben

Wie weit sind wir mit unserem Wandel, wenn 2019 noch so ein Klima in den meisten Unternehmen herrscht? Wenn Vorgesetzte sich immer noch so verhalten, wie es dieses antiquierte Wort beschreibt: Sie werden VOR gesetzt. Elitäre Führungszirkel werden stets auch durch Geheimnisse zu Bündnissen, gibt es hier wirklich den Willen, zumindest das Wissen, das alle benötigen, um gut und innovativ arbeiten zu können, zu teilen? Oder kommt es – wie von mir beobachtet – bei Krisen zu dem Wunsch, wieder in die bekannten Spurrillen z. B. von Präsenzkultur und Organigrammgläubigkeit zurückzukehren? Gallup: Nur 39 Prozent sagen, dass in ihrem Unternehmen ein Klima der freien Meinungs- und Ideenäußerung herrscht. Wow. Was nützen da moderne Tools der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit, wenn der analoge Wille zur Veränderung noch nicht mal ausgeprägt ist?

Digitalisierung – Technik oder auch eher Haltung?

Ein Beweis, dass Digitalisierung nicht intrinsisch und damit noch nicht als Haltung in Unternehmen verankert ist, findet sich bei der civity-Studie “Eine Frage der Unternehmenskultur – Voraussetzungen für die digitale Transformation von Verkehrsunternehmen:” Die befragten Unternehmen nannten als Top-Grund für den Rückstand ihrer Digitalisierungsstrategie und -umsetzung die Unternehmenskultur. Zitat: “In den Unternehmen herrscht zumeist eine techniklastige Kultur vor, bei der der Mensch nicht ausreichend im Mittelpunkt steht. Dabei sind es die Menschen, die das Unternehmen verändern und im Zuge dessen auch ihre eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen weiter entwickeln müssen. Digitale Transformation ist daher immer auch kulturelle Transformation.”

Was meinen Sie: Haben wir bereits die richtige Haltung zum Mobilitätswandel – und leben wir diese konsequent?

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