Sich gerade noch strecken nach der Zukunft und plötzlich merken, dass sie längst da ist; dass sie einem nicht bloß höflich unaufdringlich auf die Schulter tippt, sondern rüttelt und schüttelt, damit man wach werde und tue. Keine Zeit, das Nötigste zusammenzupacken; wenn man denn wüsste, was das ist. Oder wohin es überhaupt geht. Wenn einem unterdessen ganz schwindelig wird, aber man ausgerechnet jetzt auf keinen Fall aus der Rolle fallen darf: dann ist man eine Gewerkschaft mitten drin im Wandel der Arbeit.
Die Mutter aller Probleme
Als solche ist man sich dieser Lage gegenwärtig immerhin zum Teil bewusst und zweifellos entschieden, den selbst gewählten gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag, der immer schon ganz naturgemäß über Arbeit hinausweist, nicht nur zu erfüllen, sondern – gewiss auch im eigenen Interesse – zu betonen, was im Falle einer demokratisch organisierten Interessenvertretung letztlich in eins fällt.
Notwendig ist es in genau diesen Zeiten aber auch, dass so eine Gewerkschaft den gleichen Habitus auf ihre Stellung in der Mitte der Gesellschaft anwendet; also auch hier so laut es geht den eigenen Gestaltungsanspruch und die besondere gesellschaftliche Rolle betont, eben nicht nur für eine bestimmte soziale Gruppe, sondern für alle in einer Gesellschaft da zu sein.
Das ist die Chance und das ist die Aufgabe, die die Gewerkschaften im laufenden Wandel haben: Möglicherweise kann eine viel stärkere gewerkschaftliche Einmischung, als sie bislang zuletzt zu vernehmen war, die Erosion der gesellschaftlichen Mitte (meiner Einschätzung nach übrigens die Mutter aller Probleme), die gegenwärtig für eine Verschiebung der traditionellen politischen Machtverhältnisse und für immer größeren Zulauf an den Rändern sorgt, doch noch abwenden. Schaffen wir das?!
Gewerkschaften als bewegliche und bewegende Institution
Wenn, dann schafft es eine, deren ganz realer Mythos der Fortschritt vom Rand in besagte Mitte ist; die also Fortschritt kann und Bewegung; die dabei die Ihren mitnimmt und sich deshalb im allerbesten Sinne Arbeiterbewegung nennen darf. Das Problem ist indes, dass die Ihren im Lauf von Zeit und Welt und Wandel insgesamt weniger geworden sind und die Gewerkschaften deshalb im Vergleich zu den politischen Parteien viel zu leise und viel zu wenig einflussreich.
Einerseits, weil so mancher in der Bewegung den Anschluss verloren hat und sich fragt, was das Ganze noch mit ihm zu tun habe; In gewisser Hinsicht fiel die Arbeiterbewegung hier ein Stück weit ihrem eigenen Erfolg zum Opfer, auch – das muss man sehen – wegen der aus ihm resultierenden Institutionalisierung in die heutigen Gewerkschaften, ohne die es aber noch viel schlimmer gekommen wäre.
Andererseits, weil so mancher gar nicht erst Anschluss hat oder haben will, wenn er z.B. seine Individualität in der deregulierten Form von New Work recht entgegenkommend aufgehoben findet. Tatsächlich ist die Zunahme sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse oftmals ohne betriebliche Bindung ein Hauptgrund dafür, dass die Gewerkschaften kaum vom gegenwärtigen Beschäftigungsboom profitieren.
Das Problem der Gewerkschaften
….ist also ein altes mit ganz neuen Aspekten; eines, das man kennt und dem man im Wandel der Arbeit nun ganz neu begegnen muss: Ganz entschieden eben nicht nur inhaltlich, sondern – gerade weil wir es zu tun haben mit einem enorm riskanten gesamtgesellschaftlichen Wandel – auch mit Blick auf die Startbedingungen und unbedingt auch auf die Zielvorgabe, diesen Wandel über die unmittelbaren Bezüge von Arbeit hinaus mitzugestalten.
Eine reelle Chance besteht ohne Zweifel: Auch wenn die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Personen in den letzten Jahren gemessen an der Zahl der Gesamtbeschäftigten abgenommen hat, scheinen die Gewerkschaften nach wie vor diejenige gesellschaftliche Institution zu sein, der es am besten gelingt, als Interessenvertretung unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten glaubwürdig zu bleiben. Wo die etablierten politischen Parteien massiv Vertrauen wie Wähler verlieren und ausgerechnet im Wandel eher im zweiten Rang über Inhalte streiten, bleiben die überparteilichen Gewerkschaften die Institution der Mitte, gerade weil sie (auch aus historischen Gründen) eben nicht nur die gesellschaftliche Mitte vertreten und von jeher unterschiedlichste Interessen zu einem Konsens vermitteln mussten. Man kennt sich aus mit harten Brocken.
Traditionsgeschäft vor neuen Herausforderungen
Und gerade jetzt müssen sie sich dieser Rolle bewusst sein, sie rückhaltlos betonen, verteidigen und erfüllen und so dazu beitragen, die gesellschaftliche Mitte zusammenzuhalten. Eine starke, verbundene gesellschaftliche Mitte ist für die Gewerkschaften selbst aus verschiedenen Gründen vorteilhaft, vor allem aber ist sie die Grundvoraussetzung dafür, den laufenden Wandel erfolgreich zu bewältigen.
In ihm für diesen Zusammenhalt zu sorgen ist für die Gewerkschaften so einfach wie mühevoll und gelingt letztlich in der Erfüllung ihres angestammten Geschäfts: In der Gestaltung des Integrationsfaktors Arbeit und im Zusammenringen von Arbeitenden vor dem gemeinsamen Interesse existenzsichernder Arbeit und gesellschaftlicher Stabilität, was in einer solidarischen Arbeitsgesellschaft unbedingt alle Menschen außerhalb und innerhalb von Erwerbsarbeit einschließen muss.
Schwierig ist das deshalb, weil die Arbeit, um die es hier geht, nicht mehr die alte ist: in ihrer Gestaltung und Organisation, in ihren Bezügen und nicht zuletzt in den Ansprüchen an sie. Gewerkschaftliches Engagement muss dem Wandel von Arbeit ausgehend von einem neuen Arbeits- und Gesellschaftsverständnis begegnen, das – wo beidem auch ein kultureller Wandel unterliegt – auch ein neues Verständnis von Individualität einschließt. Was es braucht, ist ein dem laufenden Wandel entsprechendes flexibles, aber tragfähiges, d.h. über alle Aspekte dieses Wandels informiertes Konzept, um hinwirken zu können auf eine Arbeitsgestaltung, die den neuen Bedingungen von und Ansprüchen an Arbeit und gelingende Lebensführung auch tatsächlich entspricht.
Die gewerkschaftliche Rolle vorwärts
Die Herausforderungen, vor denen die Gewerkschaften stehen, ergeben sich eben nicht nur aus dem Wandel der Arbeit, wenn hierauf auch freilich ihr Fokus liegt. Ihn zu schärfen wird immerhin durch die Tatsache erleichtert, dass diese Herausforderungen zusammenfallen mit der Notwendigkeit und den sich bietenden Chancen der jetzt anstehenden gewerkschaftlichen Rolle vorwärts. Sie kann wieder diese gewerkschaftsoriginäre integrierende, nach unten wie nach oben wirkende Gravitationskraft freisetzen: Jene nämlich, die dann sogenannte Aufstocker wie andere prekär Beschäftigte oder geringqualifizierte genauso in die Mitte der Gesellschaft (zurück)bringen kann wie die Hochqualifizierten in flexibler, unsicherer Beschäftigung; die einen Zusammenhalt erzeugt, in dem existenzielle Risiken und Notlagen gesellschaftlich abgemildert werden.
Im Wandel hin zur subjektivierten Arbeitsgesellschaft, die wir jetzt zu gestalten haben, scheint fatalerweise die grundlegende Überzeugung verlorengegangen zu sein, dass eine solidarische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerade nicht notwendig vor- oder nachteilig für die eine oder für die andere Gruppe ist, sondern im Ganzen eine stabile Gesellschaftsordnung hervorbringt, in der alle vergleichsweise gut und sicher leben können. Wo diese Einsicht abhandenkommt, löst sich auch der mit ihr verbundene, für unsere Gesellschaft essentielle soziale Kompromiss auf. Ihn hatte die Arbeiterbewegung erkämpft, ihn müssen die Gewerkschaften heute verteidigen. Und sie sind gegenwärtig besser als jede andere gesellschaftliche Institution in der Lage dazu. Aber sie können dies auch nicht allein.
Zusammen ist man nicht nur weniger allein
Sozialer Kompromiss versus Subjektivierung, Wandel versus Erhalt, Vermarktlichung versus Selbstverwirklichung: Diese Gegensätze stecken hinter den Herausforderungen der Neuen Arbeit und müssen bei der Bewältigung von Digitalisierung und Globalisierung, von demografischem und kulturellem Wandel ausgehend von und für eine starke Mitte eingehegt werden, um langfristig stabile gesellschaftliche Verhältnisse zu sichern. Die Frage nach dem Gelingen des Wandels von Arbeit ist die gleiche wie nach dem Gelingen des Wandels der Gesellschaft an sich. Es geht nicht um die Gestaltung oder Steuerung einzelner Phänomene, wie etwa Digitalisierung oder Migration, sondern um die Gestaltung der Verhältnisse im Ganzen. Ohne echtes Zusammenwirken vor genau dieser Einsicht geht es nicht.
Die Zukunft der Arbeit ist schon längst Gegenwart, als solche schreitet sie voran. Und auch wenn wir nicht wissen, wohin es geht, wissen wir immerhin, wie und mit wem. Hauptsache, die haben es – spätestens jetzt – ebenfalls verstanden.
Zum letzten Beitrag von Wenke Klingbeil-Döring:
Wissen Sie eigentlich wovon Sie da reden?
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