Die Digitalisierung der Arbeitswelt droht, viele tradierte Geschäftsmodelle auf den Prüfstand zu stellen. Interviews mit Geschäftsführungen von KMUs im Zuge unseres Forschungsprojekts „Betriebliche Arbeitswelt in der Digitalisierung“ haben gezeigt, dass sich Geschäftsführungen fataler Weise allzu oft darauf verlassen, dass das langjährig bewährte Geschäftsmodell natürlich auch in Zukunft tragfähig sein wird.
Der Blick für branchenfremde Disruptoren fehlt häufig vollständig, da die „digitale Denke“ in den Geschäftsführungen nicht vorhanden ist. Dieses Defizit ist von besonders negativer Bedeutung, da ein Umsteuern des gesamten Unternehmens ohne eine Geschäftsführung, die diesen Prozess mit vorantreibt, nicht möglich ist. Die fehlende digitale Kompetenz der Unternehmensleitung hält damit die Weiterentwicklung und Anpassung an den Markt auf.
Diese Defizite gab es natürlich auch schon vor den Zeiten der Digitalisierung. Zu keiner Zeit aber gab es eine solch dynamische Entwicklung des Marktes und die Notwendigkeit, sich innerhalb weniger Jahre vollkommen neu zu erfinden. Umgekehrt haben unsere Interviews gezeigt, dass eine digital kompetente Unternehmensleitung den Transformationsprozess extrem dynamisch gestalten kann.
Wird Führung durch die Digitalisierung still entmachtet?
Führung kommt damit in Zeiten der digital bedingten betrieblichen Transformation eigentlich eine große Bedeutung im Sinne eines Initiators und eines Leuchtturms zu. Die Herausforderung besteht aber darin, dass die technologisch bedingte Demokratisierung von Information und Kommunikation und höhere Geschwindigkeit von Arbeitsprozessen auf interne Logiken – auch und gerade auf der obersten Führungsebene – aus dem analogen Zeitalter trifft.
Die wahren “Entscheider” befinden sich heute nicht innerhalb, sondern außerhalb der Unternehmen und werden „Kunden“ genannt. Führung muss erkennen, dass sie nur noch eine „dienende“ Funktion ausüben kann.
Sie kann letztlich nur noch auf der Grundlage von existierenden Informationen, seien sie durch eine Analyse entstanden, durch ein Netzwerk oder durch KI zusammengetragen, eine folgerichtige Entscheidung treffen. Trotz der formalen Machtfülle an der Spitze des Unternehmens gibt es damit keine gleichbedeutende informelle Machtfülle mehr.
Aufwertung in der Autoindustrie
So hatte sich beispielsweise die Entwicklung der Autoindustrie weg vom fossilen Antrieb und hin zum Elektro-Antrieb, zur Aufwertung der Software gegenüber der Hardware und die Relativierung des Besitzes eines Autos schon Jahre zuvor in Studien zur Werteentwicklung und in Veränderungen von Marktpräferenzen (Verkaufszahlen Toyota Prius, Tesla S) angedeutet, so dass eine Entscheidung an der Konzernspitze eigentlich nur in eine Richtung hätte getroffen werden können.
Wie aber schon in der Fotoindustrie (Agfa) und der Smartphone-Herstellung (Nokia) wurde an alten Geschäftsmodellen festgehalten, weil Führung nicht in der Lage war, die Neupositionierung der eigenen Haltung zu realisieren. Alte Rollenselbstverständnisse insbesondere der Führungspersonen sollten daher auf den Prüfstand gestellt werden, um Arbeitsplätze langfristig zu sichern.
Neue Rahmenbedingungen für Führung
Führung in der digitalen Arbeitswelt muss unter gänzlich anderen Bedingungen und mit anderen Paradigmen agieren. Statt der Planbarkeit eines linearen Entwicklungsverlaufs muss über die Möglichkeit qualitativer Entwicklungsbrüche nachgedacht werden. Unsicherheiten und Komplexitäten treffen aber häufig auf Entscheider, die in einer Zeit der Messbarkeiten durch KPIs und Fortschreibungen von Entwicklungen beruflich sozialisiert worden sind. Innovationszyklen haben sich aber extrem verkürzt.
Fremde Branchen sind plötzlich für die eigene Strategie von Bedeutung. Kundenzugang, Datennutzung, der Zugang zu Wissen und die Kontrolle von Plattformen sind sehr viel wichtiger geworden als der Besitz von Kapital und Herrschaftswissen. Die Organisation des Geschäfts erfolgt nun nicht mehr zentral und physisch-materiell, sondern dezentral und immateriell. Taylorismus und Fordismus und damit auch pyramidale Organisationsstrukturen und die formalen Hierarchien haben ausgedient. Entscheidungen sind nicht mehr endgültig, sondern besitzen immer einen Beta-Status.
Querdenken ist nicht jedermanns Sache
In den vergangenen elf Jahren haben dem Kompetenzzentrum „Führung und Unternehmenskultur“ immer wieder viele Führungskräfte bestätigt, dass sie oft nur in geschützten Räumen überhaupt zu Experimenten bereit waren. Viele dieser Top-Manager sagen uns, dass sie abseits der gängigen internen und externen Angebote Zugang zu Plattformen brauchen, um kreativ und selbstreflektiert Gestaltungsräume für die Bewältigung des digitalen Wandels auszuloten.
Das sogenannte Querdenker-Camp unserer Kolleginnen am 4.Mai 2018 in Berlin hat darum versucht, digitale Vordenker und Transformationsgestalter mit denen zusammenzubringen, denen das Querdenken in der eigenen Organisation schwer gemacht wird.
Bausteine des Führens in digitalen Zeiten
Entscheidend für eine Anpassung der Führung ist die Antwort auf die Frage nach dem Menschenbild. Der Mensch war in der industriellen Produktionslogik ein disponibler Kostenfaktor. In Zeiten der digitalen Arbeit geht es um ein ganzheitliches Menschenbild, das sich im Konzept des „Mündigen Arbeitnehmers“ am besten auf den Punkt bringen lässt. Führung muss dem mündigen Arbeitnehmer lernen auf Augenhöhe zu begegnen.
Damit einher gehen Coaching und Befähigung statt einer Command-and-Control-Logik. Essentiell ist heute die Informationsweitergabe während es im Industriezeitalter darum ging, Information zurückzuhalten, um Macht auszuüben. Heute wird Einfluss oder besser Relevanz durch Informationsfreigabe ausgeübt. Ehemals weiche Faktoren wie die Kommunikationsfähigkeit, Empathiebereitschaft, Interesse an Kooperation und Teamfähigkeit sind heute die „harten“ Skills, ohne die ein Betrieb nicht agil in Bezug auf den Markt sein kann. Diese Notwendigkeit zur Agilität findet sich selbstredend in agilen Formen des Projektmanagements, die auch auf Selbststeuerung und Selbstorganisation setzen.
Konservativer Backlash oder RenDanHeYi-Modell?
Diese neuen Anforderungen der digitalen Arbeitswelt treffen Im Moment auf Führungskräfte jenseits der 40 Lebensjahre, die mit einem anderen Führungsparadigma beruflich „aufgewachsen“ sind. Während eben noch Ellbogenmentalität, Informationsknappheit, formale Hierarchien, Ausübung von informeller Macht in Offline-Meetings durch Gestik und Mimik, Sichtkontrolle durch Anwesenheit im Büro und der Glaube an den eigenen Besitz des Alpha-Gens und damit der selbstkontrollierten Unfehlbarkeit Voraussetzungen „guter“ Führung waren, hat sich innerhalb weniger Jahre auf breiter Front eine alternative Sichtweise etabliert.
Dass vor dem Hintergrund dieser Umwälzungen Abwehrgefechte der Führungskräfte, die nicht von diesem alten MindSet lassen können, geführt werden, ist verständlich.
Erst vor kurzem saß ich in der NextAct2020-Konferenz in Köln, die von einem der wichtigsten deutschen Vordenker im digitalen Managementbereich, Winfried Felser, organisiert worden war. Das Thema Führung spielte eine wichtige Rolle. Bekannte Redner, die sich damit beschäftigten, wie beispielsweise Marc Wagner oder das Team um Stefan Grabmeier, trugen ebendiese auch hier genannten Determinanten moderner Führung vor, als eine weibliche ältere Führungs“kraft“ neben mir sagte:
„Ich muss halt mit den Ochsen pflügen, die mir zur Verfügung stehen.“ Diese Äußerung steht symptomatisch (jedoch nicht repräsentativ!) für die Abwehrgefechte und das Menschenbild ebenjener Führungspersonen, von denen jetzt eine Änderung ihrer MindSets erwartet wird.
Bessere Bindung durch Face-to-Face
An anderer Stelle gibt es zudem Versuche auch von IT-Firmen wie HP oder IBM bzw. ihren Vorständen, ihre Beschäftigten, die jahrelang sehr mobil arbeiten durften, wieder zurück ins Büro zu ordern. Häufig wird dies damit begründet, dass die Menschen sich sehen wollen (sollten sie es dann nicht dezentral und selbst entscheiden dürfen?), dass die Angestellten wieder eine stärkere Trennung von Beruflich und Privat wünschen (Menschen sind auch in diesem Punkt verschieden) oder dass ansonsten die Bindung an die Firma leiden wird (ist es nicht eher bedenklich, dass die Bindung nur durch Örtlichkeit erhalten werden kann?).
Wie ein wertschätzendes Menschenbild mit einem „Loslassen-Können“ der Führung und dezentraler Selbstorganisation vereinbart werden kann, zeigt uns eventuell die Firma Haier mit dem RenDanHeYi-Modell. Darin werden Unternehmen organisatorisch als Städte begriffen, die durch die Kunden (Bürger) finanziert und gesteuert werden. Diese Orientierung am Kunden ist Grundbedingung der Existenz der Firma und der Tätigkeit jedes Einzelnen, der in selbstorganisierten Teams mitarbeitet. Die Entscheider sind die Bürger; die Angestellten der Firma müssen diesen Entscheidungen der Bürger folgen.
Führung als interner Bestandteil der Organisation wird deshalb auch folgerichtig weitestgehend abgelehnt, denn, so der CEO der Firma mit dem Hinweis auf die US-Verfassung: „Jeder Mensch ist gleich.“ Dass nun ausgerechnet eine chinesische Firma die US-Verfassung zitiert, um das eigene Menschenbild darzulegen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, zeigt aber auch, wie wir unser MindSet verändern müssen, unabhängig von der gegenwärtigen eigenen Rolle in Unternehmen, damit die Institution, für die wir arbeiten auch morgen noch existieren kann.
Dieser Beitrag ist zuerst im Blog der Deutschen Telekom erschienen.
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