Wenn direkt vor meiner Haustür gerade eine kleine Revolution stattfindet und möglicherweise eine Bewegung entsteht, dann lohnt es sich doppelt darüber zu berichten. Vor meiner Haustür heißt Bielefeld: Hier hat Lasse Rheingans in seiner frisch übernommenen Agentur Rheingans Digital Enabler vor etwas über einem Monat ein Experiment gestartet, das seit Ende vergangener Woche durch zahlreiche Medien geht:
Der 5-Stunden Arbeitstag bei gleichem Gehalt
Damit ist nicht gemeint, dass die gesamte Digitalisierungs-Agentur nur halbtags arbeitet, sondern: Die 13 Kolleg_innen schaffen durch smarte und effiziente Arbeit das, was sie vorher in 8 Stunden gemacht haben. Alle arbeiten vormittags hoch konzentriert und machen nachmittags was sie wollen. Ziel ist: Effektiv und blitzschnell am gleichen Ort die Absprachen treffen können, die für effektives Arbeitsziel-Erreichen notwendig sind.
Ich habe mich mit Lasse Rheingans unterhalten und einige erste Erkenntnisse aus seinem Experiment heraus gearbeitet.
Reine Effizienzsteigerung ist doch ein alter Hut?
Ja. Wie man Effizienz steigert, wusste Henry Ford schon. Deswegen hat er neben dem Fließband auch den 8-Stunden-Arbeitstag geprägt. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität. Effizienz heißt: “Die Dinge richtig tun.” Effektivität heißt: “Die richtigen Dinge tun.” Das bedeutet: Ich kann sehr effizient die Tätigkeiten erledigen, die unser gemeinsames Ziel nicht weiter bringen und bin damit zwar Effizient aber nicht Effektiv.
In der industriell geprägten Wirtschaft, in der die Arbeitsleistung daran gemessen werden kann, wie oft ein und derselbe Handgriff im Zeitfenster von 8 Stunden durchgeführt wurde, war Effizienz eine sinnvolle Maßgabe.
Die digitalisierte Wirtschaft funktioniert anders. Hier muss lösungsorientiert – also auch effektiv – gearbeitet werden. Ob die Lösung einen oder 1000 Handgriffe benötigt und wie lange die Lösung dauert, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das hat auch Rheingans erkannt und nach Wegen gesucht, die richtigen Dinge besser zu tun und die falschen Dinge nicht mehr zu tun.
Meetings sind so ein Beispiel:
Ein Meeting kann auch dann sehr effizient durchgeführt werden, wenn am Anfang des Meetings niemand richtig vorbereitet ist und am Ende keine klaren Entscheidungen und Todos festgelegt werden können. Dann wurde das Meeting möglicherweise effizient durchgeführt, hat aber keine Wirkung. Es ist also nicht effektiv.
Die Meeting-Dauer von 60 Minuten rührt nicht daher, dass eine Stunde der optimale Zeitraum wären, sondern weil frühe Kalendertools Zeiträume in Stundenabschnitten vorgaben. In Rheingans Agentur werden Meetings radikal verkürzt und als Standarddauer geht man von 15 Minuten statt einer Stunde aus. So werden Meetings effektiver und effizienter.
Selbstverantwortung und Selbstorganisation
Rheingans hat erkannt: Viele Zeitfresser am Arbeitsplatz lassen sich durch Eigenverantwortung lösen: Sowohl persönlich als auch im Team. Denn viele der folgenden Punkte, die bei Digital Enabler seit einem Monat nicht mehr passieren, finden in den meisten Unternehmen immer noch statt:
- Die erste Stunde eines Arbeitstages geht fürs Ankommen, Kaffee kochen, mit den Kolleg_innen quatschen drauf
- Nach der Mittagspause brauchen die meisten Menschen nach opulentem Essen ebenfalls 30-60 Minuten, bis sie wieder “drin” sind
- Handy weg am Arbeitsplatz. Auch die kleinste Whatsapp- oder ebay-Erinnerung reißt meist so stark aus der Konzentration, dass danach 5-15 Minuten vergehen, bis man wieder in seiner Aufgabe drin ist
- Gleiches gilt auch für berufliche und private E-Mails und Social Media Kontakte und bringt auch einige Minuten Zeitgewinn pro Arbeitstag
- Eine halbe Stunde vor Arbeitsende sind viele Menschen bereits gedanklich im Feierabend, dass eben SPIEGEL online und persönliche Mails gecheckt werden
Natürlich wird bei Rheingans in der Firma auch mal Kaffee geholt und dabei ein Wort gewechselt. Aber zugleich ist allen Beteiligten klar: Wir wollen um 13 Uhr nach Hause gehen. Das sorgt für ein gemeinsames Ziel und Respekt gegenüber der Arbeitszeit jedes einzelnen.
Die soziale Kultur leidet in der Bielefelder Agentur darunter übrigens nicht: Die Leute bleiben oft noch eine halbe Stunde nach Feierabend zum gemeinsamen Essen oder klönen. Mit dem Unterschied: Die Arbeit ist dann bereits geschafft.
Schlanke Prozesse und Termine
Rheingans übernahm die Agentur als Inhaber und Geschäftsführer im Oktober. Das war für ihn die Möglichkeit, das gewagte Experiment durchzuführen: Jetzt oder nie! Viele Agenturen haben sich im Laufe der Jahre mit ihren Prozessen an die Kunden aus Mittelstand und Konzern angepasst.
So entstehen oft Abläufe, aus denen sie nicht mehr herauskommen. Auch, wenn sie einmal mehr als agil gestartet waren, als agil im Arbeitsumfeld noch gar kein echtes Wort war.
Alle Beteiligten müssen die Haltung dahinter teilen
- Als Unternehmer muss man Vertrauen darin haben, dass die Mitunternehmer_innen genauso begeistert für die Vision brennen und einen guten Job machen wollen.
- Als Mitarbeiter_innen ist man zunächst mal nicht einfach nur durch Gehalt motiviert. Sondern durch mehr Freizeit, Lebensqualität, Selbstverantwortung und damit ein mündiger Mitarbeiter zu sein.
- Als Kunden: Darauf vertrauen können, dass die Arbeit erledigt wird. Da sich für die Kunden bisher nur positive Effekte ergeben, ist man hier auch happy.
- Als Partner-Unternehmen: Einige der Arbeitsrechtler, mit denen Lasse Rheingans im Vorfeld gesprochen hat, würde am liebsten direkt bei ihm anfangen.
Entspannte Mitarbeiter sind motivierte Mitarbeiter
Eine Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Methode sind vermutlich Menschen, die ihren Job lieben und intrinsisch motiviert sind.
Beispielsweise sind dies Entwickler, die sich auch in ihrer Freizeit mit den neuesten Technologien und eigenen Projekten beschäftigen, oder auch Online-Marketer, die sich neben der Arbeitszeit privat und mit Spaß in Social Media Kanälen bewegen und so ganz natürlich die Mechaniken dieser Kanäle verstehen und ihre Erfahrung wieder mit in die Arbeit einbringen.
Genau das ist ja auch einer der Gründe, warum Unternehmen den Weg zu Agenturen suchen: Weil dort viel eher als anderswo die Grenzen neuer Methoden und Technologien ausgelotet werden. Da ist ein Ausloten neuer Arbeitsmethoden, die über agile, SCRUM und Kanban hinausgehen, nur konsequent.
Hat die Rheingansche Agentur bald 130 Leute?
Tatsächlich ist Lasse Rheingans überwältigt und begeistert, wie viele hochkarätige Bewerbungen durch den Presserummel aktuell bei seiner Agentur landen. Und einige davon werden garantiert in die engere Wahl kommen. Aber „übers Wochenende“ kann eine Agentur natürlich auch nicht um das 2 oder 3-fache wachsen.
Im Gespräch sagte er mir: “Ich habe kürzlich einen Kommentar von einem Bekannten zu dem ganzen Medienrummel bekommen. Toll! Endlich geht es nicht immer nur um mehr, endlich geht es auch einmal um weniger!„
Darum sieht er noch eine ganz andere Perspektive als Wachstum des eigenen Unternehmens: “Das finde ich super. Endlich muss es nicht immer schneller, höher, weiter sein. Einfach mal auf dem Boden bleiben, die Qualität, und nicht die Quantität hochhalten.
Ich möchte Mehrwerte schaffen, keine Organisation aufblähen. Darum arbeiten wir gerade an verschiedenen Möglichkeiten, wie Menschen die Idee des kürzeren Arbeitstages – das müssen ja nicht immer genau 5 Stunden sein – in die Unternehmern tragen können für die sie arbeiten, statt zu kündigen.”
Die Vision und das Warum für einen 5-Stunden Arbeitstag vor Augen haben
Statussymbole bedeuten Lasse Rheingans nichts. Vielmehr geht es ihm um Werte, mit denen sowohl er als auch seine Mitarbeiter_innen leben können. Und zwar gut leben können.
Die Vision seines Unternehmens ist es, durch Technikkompetenz, Digitalisierungswissen und interdisziplinären Tellerrand dem Mittelstand in Deutschland zu helfen. Dazu gehört auch, dass Kundenversprechen innerhalb eines 5-Stunden Arbeitstags eingehalten werden. Die Kunden sollen auch in 10 Jahren noch sagen: “Mit den Leuten von Rheingans können wir super zusammen arbeiten.”
Was können Unternehmen und Mitarbeiter_innen tun?
Ich habe Lasse Rheingans gezielt nach den Vorgehensweisen und Methoden gefragt, mit der er die hohe Akzeptanz für den 5-Stunden Arbeitstag erzielt hat. Möglicherweise möchten andere Menschen in Ihrem Arbeitsumfeld ein eigenes Arbeitszeit-Experiment starten:
Unvermeidbare Veränderungen
Neue Standorte, Produkt-Launches, ein Wechsel der Stelle; viele dieser Veränderungen bieten das Potenzial mit der “Jetzt oder nie!”-Haltung auch eine radikale Veränderung der Arbeitskultur herbeizuführen. Im hier besprochenen Beispiel war es die Übernahme der Agentur. Übrigens macht es die Veränderung auch gleichzeitig für Kunden leichter, zu akzeptieren und zu sagen: “Ah, da kommt der Neue und probiert etwas anderes.”
Auf Augenhöhe arbeiten:
Rheingans hat bewusst zwei Wochen lang als “Chef im Praktikum” gearbeitet und so die internen Prozesse seines neuen Teams kennen gelernt, die im übrigen schon sehr hervorragend aufgestellt waren. So erfuhr er einerseits, wie gearbeitet wird, hat aber auch die einzelnen Team-Mitglieder sehr genau kennen lernen können.
Stolpersteine einplanen und Testzeitraum setzen:
Im Beispiel dieses Artikels beträgt der Testzeitraum 3 Monate. Das macht für alle Beteiligten das Experiment leichter. Und für diesen Zeitraum wurde auch Raum für Stolpersteine eingeplant. Allerdings ist bisher noch kein einziger dieser Stolpersteine aufgetaucht.
Immer wieder reflektieren und optimieren:
Eine Geisteshaltung der ständigen Optimierung und des Prüfens hilft auch dabei, keine unsinnigen Methoden zur Routine werden zu lassen. Bei der Bielefelder Agentur wird jeden Freitag gemeinsam gekocht. In dem Rahmen wird dann über einzelne Maßnahmen gesprochen, ob sie weiterhin geeignet sind, um zu erreichen, was man sich vorgenommen hat oder eben auch nicht.
Beispielsweise kam so die Entscheidung zustande, für alle Leute Headsets anzuschaffen, damit bei Telefonaten beide Hände frei sind und ein weitere Effizienz gewonnen werden kann. So entwickelt sich nicht nur das Modell weiter, sondern die Akzeptanz bleibt gleich hoch und alle Beteiligten haben ein Gefühl dafür, gehört zu werden.
Experiment bedeutet auch, dass es fehlschlagen kann:
Der Weg zurück zu einem anderen oder auch dem alten Modell sollte offen gehalten werden. Auch wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, ein komplettes Rollback zu machen, haben alle Beteiligten etwas sehr wertvolles:
Die Erfahrung und das Wissen, was nicht funktioniert hat und das Team weiter gebracht hat. Ein wichtiger Punkt ist es, den Menschen Verantwortung zu übertragen und ihnen gleichzeitig zu erlauben zu scheitern. Nur so können sie aus ihren Erfahrungen lernen und individuelle Lösungen entwickeln, die zum Unternehmen passen.
Scheitern lässt sich laut Rheingans Erfahrung übrigens durch eine gelebte Kultur des Zuhörens früh erkennen und vermeiden. Das Ziel ist schließlich nicht, um des Scheiterns Willen Fehler zu machen, sondern vielmehr: Ein Experiment unternehmen, beobachten, messen und so schnell zu ersten Ergebnissen kommen, dass nachgesteuert werden und das Experiment zum Erfolg geführt werden kann. Wer eine Kultur des Zuhörens aufbaut, wird hier sehr viel schneller zum Ziel kommen.
Persönlichkeiten des Teams verstehen & kommunizieren:
Im Idealfall lernt das gesamte Team in einem gemeinsamen Workshop, wie es besser und verständlicher miteinander kommunizieren kann. Hilfreich können dabei Persönlichkeitsprofile nach DISG oder MBTI sein. Alleine schon, um sich selber vor Augen zu führen, wie unterschiedlich Menschen tatsächlich funktionieren. Selber zu erfahren, dass die eigene Persönlichkeit möglicherweise eher auf Zahlen und Fakten anspricht, während ein anderer Mensch eher durch Emotionen und Storytelling abgeholt werden kann
Welche Werkzeuge und Methoden kommen denn bei Digital Enabler zum Einsatz?
Klar: Slack, Jira, ZenDesk, IP-Telefonie über Sipgate und viele anderen digitalen Tools sind nicht wegzudenken und ermöglichen erst moderne Arbeitsweisen durch die einfache n:n Kommunikation, Wissensaustausch und transparente Kooperation.
Ein digitales Tool, das Digital Enabler eher aus Spaß für sich geschaffen hat, aber das nun erheblich Sinn macht ist: http://feierabend.digitalenabler.de/
Von morgens 8:00 bis Punkt 13:00 läuft hier ein Countdown für alle sichtbar im Büro, der einerseits an konzentriertes Arbeiten erinnert, aber gleichermaßen auch an das gemeinsame Tagesziel: Feierabend um 13 Uhr.
Mit das wichtigstes Tool ist aber auf Papier: Das haben die Mitarbeiter_innen täglich in der Hand und vor Augen. Somit erinnert es ständig an die neue Arbeitsweise:
8:00 Mails checken, priorisieren und den Tag planen
8:30 Standup: Was liegt an? Wer arbeitet an was? Wer kann welche Aufgabe am besten lösen?
Danach: 5 hoch priorisierte Todos abarbeiten
Bis 13:00 ein zweites Mal E-Mails und sonstige Kanäle checken und nächsten Tag planen
Feierabend.
Etwas zurückgeben für die Vision
Als ich Lasse frage, wie denn die Zukunft nun für Digital Enabler aussieht, überrascht er mich mit der nächsten Idee: Die Software, die sich Mitarbeiter der Agentur aus ihren eigenen Erfahrungen als modernes, neues Tool selbst gebaut hat,um effektiv zu arbeiten, wird voraussichtlich Mitte 2018 als kostenlose Software as a Service veröffentlicht.
Damit sollen auch andere KMU enabled werden, sowohl effizienter als auch effektiver arbeiten zu können. Die Software wird bis dahin über ein halbes Jahr erprobt sein. Für Rheingans Unternehmen geht damit keineswegs Business-Potenzial verloren, sondern es gewinnt zusätzliche Partner und Kunden für spezielle Anpassungen hinzu.
Und: Für die Kolleg_innen, die an der Software arbeiten, sind Ruhm und Ehre neben vollem Gehalt im 5-Stunden Arbeitstag eine zusätzliche Motivation.
Diskussionen und Video zum Thema
TV-Beitrag mit Blick in die Agentur bei WDR.de
Bücher zum Thema:
Wer das Thema weiter vertiefen möchte, kann das mit den folgenden 5 Bücher tun, die Lasse Rheingans uns als Inspiration und Bestätigung für die Idee des 5-Stunden-Arbeitstag genannt hat, von deren Erfolg er überzeugt ist:
- 5 Hour Workday – Stephan Aarstol
- Management Y – Ulf Brandes u.a.
- Radikal führen – Reinhard k. Sprenger
- Silicon Germany – Christoph Keese
- Third Wave – Steve Case
- The Big Five for Life – John Strelecky
Artikelbild: www.UrbanYards.de
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Sehr interessanter Artikel, nachahmenswert!
Sehr ermutigende Geschichte – vielen Dank!