Von Werner Otto, dem Gründer des früheren OTTO-Versands, ist ein Ausspruch überliefert: Nicht die Menschen haben der Wirtschaft zu dienen, sondern die Wirtschaft den Menschen. Allein der Begriff „dienen“ deutet an, dass dieser Leitgedanke für eine Wirtschaft in der Gründerzeit der jungen Bundesrepublik passend war, in der die Soziale Marktwirtschaft noch ein Versprechen auf Aufschwung und wachsenden Wohlstand für alle war.

Doch passt dieser am Gemeinwohl orientierte Imperativ noch in eine Zeit des schnellen und disruptiven Wandels? Passt er in eine Zeit der durch Internet und Smartphone definierten Hypertransparenz? Passt er in eine Zeit, in der US-amerikanische Technologiekonzerne den wirtschaftlichen Takt vorgeben, ohne auch nur einen Yota auf vermeintlich alte und europäische Werte wie Verbraucherschutz, Datenhoheit, Tarifbindung und Steuermoral zu geben?

Ich bin zutiefst davon überzeugt,

dass eine an Werten orientierte Unternehmensführung nicht an der Garderobe der Digitalisierung abgegeben werden muss. Mehr noch: Werte, vulgo Haltung werden in Zukunft die Voraussetzung für unternehmerischen Wandel und Erfolg gerade in einem sich erheblich verändernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld sein.

Gesellschaftlich lässt sich das sehr leicht und direkt aus den disruptiven Strömungen ableiten. Etablierte Institutionen des demokratischen Diskurses wie die großen Volksparteien, die Gewerkschaften, die Kirchen, aber eben auch die großen Konzerne erleiden einen erheblichen Vertrauensverlust.

Glaubt man dem Urteil von Experten, steckt dahinter mehr als der Wunsch nach gelebter Demokratie und Partizipation: Es deutet vielmehr vieles daraufhin, dass die Institutionen ihren selbstgewählten Anspruch auf Sicherheit, Teilhabe und Prosperität breiter Bevölkerungsschichten nur noch bedingt einzulösen vermögen.

Gesellschaftliche Zukunftsangst

Mehr noch breitet sich in allen Gesellschaften eine Zukunftsangst aus, die rational zuweilen schwer begründbar ist. Meine These: Digitalisierung und Globalisierung (sichtbar in der Migration) und die mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen überfordern die etablierten Institutionen und erzeugen ein diffuses Gefühl von Orientierungslosigkeit.

Aus diesem Grund stehen auch und gerade die großen Unternehmen in der Pflicht, den digitalen Wandel anzupacken und aus dieser Rolle heraus Erklärstücke für die Zukunft der Arbeit, der Wirtschaft und auch der Gesellschaft zu liefern.

Die Herausforderung wächst

Daraus erwächst auch die Herausforderung von Unternehmern und Managern, deutlicher als bisher Stellung zu den großen Herausforderungen zu beziehen. Wir müssen vernehmbar erklären, welchen Wert wir als Unternehmen den Kunden, den Mitarbeitern und der Gesellschaft bringen. Ob bei Fragen des Klimawandels, der sozialen Gestaltung der Lieferkette oder beim respektvollen Umgang mit NGOs, Gewerkschaften und Betriebsräten. So könnte wieder mehr Vertrauen und Zuversicht entstehen.

Die Otto Group gilt traditionell, insbesondere durch die gelebte Verantwortung der Unternehmerfamilie Otto, als ein Unternehmen, das verantwortungsvoll mit Mensch und Umwelt umgeht. Innerhalb des Unternehmens und weit darüber hinaus. Heute besteht die Herausforderung darin, die Frage zu beantworten, wie unter den veränderten Bedingungen der Digitalisierung weiterhin werteorientiert gehandelt werden kann.

Traditionelle Werte müssen in die Neuzeit transformiert werden

Welche Art von Verantwortung können Wirtschaftsunternehmen also gesellschaftlich übernehmen, wenn ganze Branchen wie die Finanzbranche oder jüngst die Automobilindustrie ihre gesellschaftliche „Licence to operate“ verloren haben? Was bedeutet Tarifbindung in Zeiten kompletter Flexibilisierung von Raum und Arbeitszeit? Wie schaffen es Unternehmen, bei Mitarbeitern, Kunden und anderen Stakeholdern als vertrauenswürdige Partner wahrgenommen zu werden?

Unsere Antwort darauf: Die Unternehmen müssen sich neu erfinden. Und wir haben festgestellt, dass dies vor allem eine Frage der Haltung ist. In einer Welt im Wandel sind etliche Großorganisationen wie Unternehmen nicht gut aufgestellt, weil sie auf Effizienz getrimmt sind und nicht auf Innovation und ständige Veränderung.

Deshalb muss sich bei etablierten Unternehmen ihre Kultur massiv verändern. Weg von starren Hierarchien und Silodenken, hin zu radikaler Offenheit, Transparenz und unternehmerischen Freiräumen an der Unternehmensbasis – gelebte Partizipation.

Wann die digitale Transformation gelingen kann

Aus diesem Grund sind die Gesellschafter und der Vorstand der Otto Group vor nunmehr knapp zwei Jahren angetreten, einen Kulturwandel auszurufen und zu stimulieren. Denn die digitale Transformation eines Unternehmens kann eben nur dann gelingen, wenn die Menschen ihre Haltung überdenken und sich Neuem öffnen.

Wir haben bei uns im Vorstand damit angefangen. Schließlich müssen wir als Führungskräfte den Wandel vorleben. Das ist eine Aufgabe, die wir nicht delegieren können. Wir stellen gerade unsere gesamte Hierarchiepyramide auf den Kopf. Nicht, um sämtliche Hierarchien abzuschaffen, aber um sie durchlässiger zu machen, deutlich agiler in der Zusammenarbeit und flexibler in unseren Prozessen zu werden.

Dafür gibt es viele Beispiele. So hat die Otto Group etwa ein neues Leitbild erarbeitet, das eindrucksvoll zeigt, wie bestehende Werte, Wünsche und Vorstellungen in die neue Welt transformiert werden. Wie das funktioniert? Ein kleines, selbstorganisiertes Team ist durch den Konzern getourt und hat Kolleginnen und Kollegen unserer Unternehmen in der ganzen Welt folgende Fragen gestellt: Wer ist die Otto Group eigentlich? Was hält uns zusammen? Was macht uns aus? Aber auch: Worin unterscheiden sich die Unternehmen?

„Gemeinsam setzen wir Maßstäbe“

Mehr als 3.000 Impulse sind dabei gesammelt worden, die die Grundlage waren für das gemeinsame und aus der Mitte der Kollegenschaft heraus entwickelte Leitbild der Otto Group: „Gemeinsam setzen wir Maßstäbe“. Denn das ist es, was uns alle antreibt. Wir wollen verändern und Neues schaffen, das über das Bekannte hinausreicht.

Ganz konkret nehmen wir uns vor, unsere Kunden menschlich und technologisch zu begeistern, Gestaltungsräume eigenverantwortlich und vernetzt zu öffnen und zu nutzen, mutig und nachhaltig große Ideen für unsere Zukunft und die Gesellschaft zu entwickeln. Alte Werte neu gedacht, alte Werte neu gelebt.

Kommunikation spielt im Kontext unseres Kulturwandels eine immens wichtige Rolle. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Führung ist Kommunikation. So haben wir in der gesamten Gruppe viele neue Dialogformate entwickelt und entwickeln lassen, in denen wir und die Kolleginnen und Kollegen sich untereinander sehr unmittelbar und auf Augenhöhe transparent über strategische Themen und Erfahrungen austauschen.

Angebote über Verordnungen stellen

Und als ein in der Öffentlichkeit bekanntes Thema: Der Vorstand hat im Zuge dieses Prozesses auch beschlossen, allen Kolleginnen und Kollegen weltweit das Du anzubieten. Mittlerweile ist es tatsächlich auch der Standard in unserem Wortschatz geworden. Als Brücke vom Ich zum Wir, als äußeres Zeichen eines inneren Wandels – auch und gerade des Vorstands. Wohlgemerkt: Es war und ist ein Angebot, keine Verordnung.

Mit dem Leitbild und den daraus entstandenen strategischen Leitlinien und einer ambitionierten Geschäftsfeldstrategie weisen wir uns und allen, die mit uns intern oder extern zu tun haben, einen klaren Weg, um die digitale Transformation vorantreiben zu können. Das ist die Zukunft der Arbeit, wie wir sie in der Otto Group mit Leben füllen möchten und müssen.

Wir nehmen unsere Pflichten als Unternehmen sehr ernst und leben unsere Werte wie Vertrauen und Authentizität, Nachhaltigkeit und Sozialverantwortung, die in unserer Unternehmens-DNA tief verwurzelt sind, weiter und überführen sie in eine neue Arbeits- und Handelswelt. Auf unserem Otto Group Weg in die Zukunft verfolgen wir unsere wirtschaftlichen Ziele streng, lassen uns aber weiterhin einen großen Freiraum für nachhaltiges Engagement und übernehmen Verantwortung für die Folgen unseres Handelns.

Nach wie vor, vielleicht sogar mehr denn je, gilt unser Leitspruch, dass nicht die Menschen der Wirtschaft zu dienen haben, sondern die Wirtschaft den Menschen.

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