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Arbeit ohne Arbeitsplatz

Computer und Internet verändern allmählich jeden Aspekt unseres Denkens: Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Vorstellungsvermögen, Kreativität, Urteilskraft, Entscheidungsprozesse und vieles andere mehr. Auch das, was wir Arbeit nennen, wird nicht nur verändert, sondern allmählich neu definiert. Ähnlich gesellschaftsverändernde Wirkungen hatten früher auch andere ehemals neue Medien – wie die Sprache, die Schrift und der Buchdruck –, nur dass heute alles ungleich schneller abläuft. Um den sich beschleunigenden Wettlauf mit immer leistungsfähigerer Technik zu gewinnen, müssen Menschen (und Ausbildung) sich künftig auf das konzentrieren, was Menschen von Maschinen unterscheidet und was man Computern (noch) nicht beibringen kann: Kreativität, Emotionen, Intuition, Wissen, Erfahrung und die Fähigkeit, intelligent mit Unvorhersehbarem umzugehen.

Arbeit wird künftig wieder begriffen werden als etwas, was man tut, und nicht als etwas, was man hat. Das Denken in der traditionellen Kategorie Arbeitsplatz wird aufgegeben werden müssen. Es wird ersetzt durch ein Denken in Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Arbeitswelt wird vielfältiger, die Ausnahmen werden zur Regel, das „Normalarbeitsverhältnis“ und die „Normalbiografie“ sind auf dem Rückzug.

Zwiespaltigkeit

Das alles ist zwiespältig, denn die aus den bürokratischen Unternehmenszwängen unfreiwillig Entlassenen werden oft zu Wander-Wissensarbeitern, denen die Fesseln neuer Freiheiten umgelegt werden: ein Höchstmaß an Eigenverantwortung und Selbstorganisation kombiniert mit minimalen Absicherungen und Planbarkeiten.

Weil wir künftig mehr kreative Individuen brauchen als brave, angepasste Ausführer, müssen wir vor allem unser industriegeprägtes Bildungssystem radikal umkrempeln. Fleiß, Ausdauer und das Erlernen von Fertigkeiten allein reichen nicht mehr, um im Rennen gegen die Maschinen bestehen zu können – im Wettbewerb von morgen zählen vor allem gute Ideen. Unsere Schulsysteme sind leider nicht dafür ausgelegt, spezifisch solche Fähigkeiten zu trainieren, die wir Menschen den Maschinen voraus haben. Was wir brauchen, sind Schulen, die selbständiges, von Neugier gesteuertes Lernen in wenig strukturierten Umgebungen ermöglichen. Dass beispielsweise die Gründer von Amazon, Google und Wikipedia ehemalige Montessori-Schüler sind, lässt erahnen, wohin die Reise gehen wird.

Soziale Abgründe

Hier ist Eile geboten, denn die soziale Kluft zwischen den Gewinnern und Verlierern dieses Strukturwandels wird rasch größer. Die zunehmende Spreizung bei den Einkommen ist eine direkte Folge der Informatisierung in der Arbeitswelt. Viele kognitive und manuelle Aufgaben, deren Lösung auf Regeln basiert, lassen sich in Algorithmen abbilden und auf Computer übertragen. Kolonnenhafte Vervielfältigungsarbeit, also die klassische Industrieproduktion, wird deshalb mehr und mehr technisiert und/oder in andere Länder verlagert. Auf der anderen Seite werden kreative Unikat-Arbeiten immer bedeutsamer und besser bezahlt, hier ist das Einkommen aber oft nicht mehr an Arbeitszeiten oder ähnliches gekoppelt. Bei allen Gütern, die man digitalisieren kann, zählt nur die Idee, das Design, die Entwicklung usw. – also ein Unikat.

Es ist wie bei einem Romanautor: Um erfolgreich zu sein, kommt es nicht darauf an, wie schnell er wie viele Zeilen schreibt, sondern wie gut seine Ideen sind. Ideen von heute sind das Geld von morgen. Die Vervielfältigung und weltweite Verteilung des Endprodukts, also das, was heute noch Industriearbeit ist, übernimmt bei digitalisierbaren Gütern die Technik. Das alles führt dazu, dass der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt schrumpft, während der Anteil der Gewinne aus Kapital steigt. Netzwerkeffekte auf Winner-Takes-All-Märkten tragen ebenfalls dazu bei, dass sich die soziale Schere in modernen Gesellschaften zunehmend weiter öffnet.

Fundamentale Veränderungen in sozialen Sicherungssystemen

Neben einem radikalen Umbau unseres Bildungssystems sind deshalb ähnlich fundamentale Veränderungen in der Konstruktion sozialer Sicherungssysteme und der Finanzierung des Gemeinwesens vonnöten. Hier kann man beispielsweise an die weitsichtigen Vorschläge von Hans Matthöfer anknüpfen, der schon Anfang der 80er Jahre in detaillierten Konzepten vorschlug, die Finanzierung des Staates künftig auf eine andere Grundlage zu stellen. Statt den Faktor Arbeit zu belasten, sollte man künftig vor allem den Verbrauch von knappen natürlichen Ressourcen besteuern. Statt darüber nachzudenken, wie wir Menschen durch Maschinen ersetzen können, sollten wir vor allem überlegen, wie sich die Fähigkeiten von Menschen mit denen der Maschinen kombinieren lassen.

Auch im Umgang mit Wissen und Geistesprodukten sind radikale Änderungen vonnöten, da vielerlei Hindernisse und Schranken mit dazu beitragen, dass Wissen in der Gesellschaft nicht frei fließen kann -wodurch viele Neukombinationen von Ideen und eine Nivellierung des sozialen Gefälles verhindert werden.

Das Ende der Industriegesellschaft?

Die Produktion materieller Güter wird natürlich nicht verschwinden, genauso wenig wie die Landwirtschaft beim Übergang zur Industriegesellschaft verschwand. Doch in allen hochentwickelten Ländern werden Innovation und Wertschöpfung mit immateriellen, digitalisierbaren Geistesprodukten immer wichtiger. Das gilt auch bei Industrieprodukten – bei Mobiltelefonen, aber etwa auch bei Autos kommt es mehr und mehr auf die Qualität der Software und des Designs an, um erfolgreich zu sein. Wer auf diesen Feldern nicht ganz vorne mitspielen kann, läuft auch bei der Produktion von materiellen Gütern in existenzielle Probleme.

Insbesondere europäische Unternehmen laufen Gefahr, im Zangengriff zwischen innovativen US-High-Tech-Konzernen und nachrückenden asiatischen Massenproduzenten zerquetscht zu werden. Dafür müssen wir den Ideenreichtum der gesamten Gesellschaft zur Entfaltung bringen. In unserer starren Arbeitswelt liegen viele Fähigkeiten brach, weil bei uns Menschen oft nicht das tun dürfen, was sie können und wollen. Wir vergeuden heute viel mehr menschliche Potenziale als wir tatsächlich nutzen. Diese Verschwendung können wir uns in Zukunft nicht mehr erlauben.

Gefangen in alten Denkmustern?

Ein Problem bei alledem ist die Tatsache, dass die Zeitgenossen solcher Umwälzungen lange Zeit in alten Denkmustern, Werten und Kategorien verhaftet bleiben und deshalb das Wesen der Veränderungen zunächst nicht erkennen können. Bezeichnend sind die vielerorts beobachtbaren Versuche, die sich allmählich entwickelnden neuen Tätigkeitsformen lediglich als Facetten industrieller Arbeit zu betrachten und an traditionellen Begriffen und Kategorien wie Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsleistung und Arbeitsplatz festzuhalten.

Aktuelle Marketing-Kampagnen, wie die von interessierten Kreisen zur effektiveren Akquise von staatlichen Forschungsmitteln ausgerufene „Vierte industrielle Revolution“ und modische Wortschöpfungen wie „Industrie 4.0“ behindern eher das Verständnis der fundamentalen Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die weit über die Fabrikhallen hinausgehen.

Die hartnäckige Dominanz unseres industriegesellschaftlich geprägten Denkens erinnert an die Mönche, die noch fünfzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks jedes einzelne gedruckte Exemplar Korrektur lasen, weil sie einige Wirkungen der neuen Technik anfänglich gar nicht begreifen konnten. Gut möglich, dass sich spätere Generationen über unser heutiges Verständnis der Wirkungen neuer Informations- und Kommunikationstechniken ebenfalls kopfschüttelnd amüsieren werden.

Nachbemerkung:

Mit Ausnahme kleinerer Aktualisierungen erschien dieser Text bereits in den Jahren 1996 – 2000 in verschiedenen Zeitschriften, zuletzt in wesentlich erweiterter Langfassung als sechsteilige Artikelserie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: (http://bit.ly/FAZ_Serie_NOek_2000opt). In der arbeitspolitischen Debatte wurden solche und ähnliche Beiträge allerdings seinerzeit weitgehend ignoriert, auch von weiten Teilen der Gewerkschaften und der Politik. Damals standen – auch in Deutschland – die Tore für eine arbeitspolitische Gestaltung der Entwicklung noch weit offen, weil Firmen wie Google & Co. noch gar nicht gegründet waren.

Durch die fast zwanzig Jahre währende Ignoranz in Deutschland wurden diese Chancen und Mitwirkungsmöglichkeiten allerdings weitgehend verschenkt, denn die entscheidenden Weichen haben inzwischen andere Akteure, vor allem aus dem Silicon Valley, längst gestellt. Aus diesen folgenschweren Versäumnissen wurde bislang hierzulande offenkundig wenig gelernt, denn aktuell dominieren in unserer arbeitspolitischen Debatte noch immer eher vielfältige Versuche, reaktiv die Vergangenheit festzuhalten statt offensiv die Zukunft zu gestalten. Gleichwohl gilt nach wie vor der bekannte Satz des Computer-Pioniers Alan C. Kay: „The best way to predict the future is to invent it!“

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