Die Digitalisierung hat es schwer in Deutschland. Wer kennt sie nicht, die Vorwürfe an die digitalen Befürworter, man solle nicht ständig über die Technik reden, sondern über die kulturelle Dimension der Digitalisierung. Von dort ist es nicht mehr weit bis zum Hinweis, dass man Bücher ja noch riechen müsse, um sie lesen und für gut befinden zu können.

Diese gegenüber der Digitalisierung der Bildung kritische Sichtweise, die sich rein auf die physische Verfügbarkeit von Hardware konzentriert, greift jedoch deutlich zu kurz, da aus dem zeitlich und örtlich begrenzten Vorhandensein der technischen Möglichkeit für Kollaboration, Kommunikation und letztlich Lernen noch nichts über die gelebte Kultur gesagt worden ist. Kultur und Technik können im besten Sinne des Wortes „Kulturtechnik“ nicht getrennt betrachtet werden; dort geht es um die sozialen Implikationen der Technik.

Es muss anhand von Beispielen für die Lehrenden im Bildungsbetrieb erlebbar werden, dass Digitalisierung mehr als die Veränderung der quantitativen Verfügbarkeit von Technik ist; es betrifft sehr viel mehr die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren, teilen und zusammen arbeiten. Aber auch in diesem gesellschaftlichen Feld, dass die Digitalisierung genau deshalb von vielen Pädagogen angefeindet wird, da sie die pädagogische Autorität, wie wir sie aus den letzten 200 Jahren kennen, infrage stellt.

Neue Machtverhältnisse

Die Individualisierung von Bildung wird zu einer Neudefinition der Machtverhältnisse der verschiedenen Stakeholder im Bildungssystem führen. Der Vergleich mag auf den ersten Blick etwas sehr abseitig sein; der Niedergang etlicher Branchen (Kamerahersteller et al.) – alles dies ist eine Folge der Digitalisierung und der daraus folgenden Verschiebungen in den Machtverhältnissen zwischen den Stakeholdern.

All diese untergegangenen Unternehmen sind Ausdruck der Unfähigkeit und des Unwillens, sich den Gegebenheiten der Digitalisierung anzupassen. Auch Bildungsinstitutionen, wie wir sie kennen, gehören zu den traditionellen Gatekeepern der analogen Welt; sie entscheiden über die Vergabe von Zertifikaten und damit über die Zukunft von Menschen. Auch diese Institutionen werden sich anpassen müssen an die neuen Rahmenbedingungen ihres Handelns.

Wir müssen daher auch über den Fortbestand der Bildungsinstitutionen per se, das Selbstverständnis der Lehrenden und die Methode der Pädagogik reden. Das Internet reißt auch hier etliche Grenzen ein; Bildung erfolgt eher temporär (Stichwort „Halbwertszeit des Wissens“) und kurzfristiger, sie findet institutionen- und länderübergreifend statt, sie findet anlassbezogener statt, sie bedarf nicht mehr unbedingt einer Lehrenden-Lernenden-Beziehung. Auch Bots können Lehrende sein.

Internationalisierung und Individualisierung

Die Internationalisierung bringt die Frage mit sich, in welcher Weise rein deutsche Zertifikate noch einen Wert besitzen. Auf Plattformen wie Mechanical Turk von Amazon und vergleichbaren Portalen zählen die aktuellen Leistungssternchen mehr als der deutsche Meisterbrief.

Die Individualisierung erfordert immer mehr das stärkere Ausdifferenzieren von Lerninhalten; dies ist kaum vereinbar mit Bildungsinstitutionen, die sich gerade im schulischen Bereich in Richtung einer Standardisierung über alle Altersgruppen hinweg entwickelt.

Bildung und Weiterbildung werden zur eigenen persönlichen Angelegenheit. Dies setzt natürlich auch die Fähigkeit voraus, die Notwendigkeit der individualisierten Verantwortlichkeit zu erkennen und umsetzen zu können. Die Menschen werden zum Unternehmer in eigener Angelegenheit. Die Fähigkeit, dies für sich anzunehmen, ist sicher aber nicht bei allen Menschen in gleicher Weise vorhanden.

Auch die immer wieder in die Debatte eingebrachte Argumentation, dass Inhaltswissen für Lehrende unwichtiger dafür aber Erfahrungswissen immer wichtiger würde, greift zu kurz. Erfahrungswissen, dass sich nicht explizit auf soziale Aspekte bezieht, verliert auch an Wert. Der Erfahrungswert des Meisters gegenüber den Lehrlingen verliert an Bedeutung, da die technische Umgebung sich immer schneller ändert und zudem ergänzendes Wissen jederzeit im Netz verfügbar ist.

Empathiefähige Menschen statt Apparatschiks

Um diesen Herausforderungen begegnen zu können, müssen wir „Bildung“ auch außerhalb der Mauern der klassischen Institutionen anerkennen lernen. Während heute gerade in Deutschland Bildung nur einen Wert zu haben scheint, wenn dies mit einem Stück Papier und einem Stempel nachgewiesen wird, müssen wir zukünftig auch informell und in der Freizeit erworbenes Wissen schätzen lernen. Was ist für eine Firma wichtiger: Der Bankangestellte, der in seiner Freizeit Börsenspiele spielt, oder der Bankangestellte, der formale interne Fortbildungen besucht, nach Dienstschluss aber nichts mehr von Banken hören will?

Vermeintlich „weiche“ Kompetenzen (Empathiefähigkeit, Kollaborationsfähigkeit, Wille zum Teilen) werden in der zukünftigen Berufswelt die Dominanz der bisherigen „harten“ Kompetenzen (Ellbogenverhalten, Führungswille, Deutungsdominanz) ablösen. Wir täten gut daran, den Kindern und Jugendlichen diese gesellschaftlich nachhaltigeren Werte schon in der Schule zu vermitteln und ihnen aufzuzeigen, welcher Mehrwert es ist zu wissen, wofür man als Mensch steht, welche moralischen Werte man sein eigen nennt, was einen antreibt und wieso man gerade den Beruf ausüben möchte, der all diese Eigenschaft berücksichtigt, oder anders ausgedrückt: Vergesst die Erziehung zu funktionierenden Apparatschiks und appelliert besser an die menschlichen und sozialen Werte.

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