Wenn uns in der Alten Welt die früheren Tugenden Preussens verloren gegangen sind, lohnt der Import von den Preussen Asiens: Japan Re-Import an Arbeitshaltung und Motivation? Kleine Handgriffe – grosse Wirkung! Eine ganz persönliche Einschätzung aus vielen beruflichen und privaten Japan-Reisen.

Schnelles Japan

Beispielsweise im Tempel Nikko, in der Nähe von Tokio, müssen Besucher am Eingang ihre Schuhe ausziehen. Wenn sie wieder aus dem Tempel herauskommen, sind die Schuhe um 180 Grad gedreht. Mit dieser Annehmlichkeit, sich nicht bücken zu müssen, um die Schuhe umzudrehen, rechnen die meisten Besucher nicht. Genauso wie im Flughafen-Restaurant der Ober den Gast fragt, wieviel Zeit er sich für das Essen nehmen will. Eilige, die nur schnell eine Kleinigkeit vor dem Abflug in Narita zu sich nehmen wollen, bekommen die Rechnung gleich mit dem Essen, ohne dass sie darum besonders bitten müssten.

In allen japanischen Hotels (auch in Düsseldorf) putzen Service-Mitarbeiter in der Nacht die Windschutzscheiben der Gäste oder die abendlichen Rückkehrer werden auf ihrem Zimmer mit einem Kärtchen überrascht: darauf haben Hotel-Mitarbeiter eingetragen, welches Wetter am nächsten Morgen erwartet wird. Mit solchen scheinbar nebensächlichen Leistungen wird überall Kundenbindung erzeugt.

Unschlagbares und geheimnisvolles Japan?

Es gibt für mich zwei Gruppen, die das Lernen von Japan ablehnen: während die eine auf die augenblicklichen Schwierigkeiten der Japaner weist und sagt, dass diese auch nur mit Wasser kochen, benutzt die andere das Argument der kulturellen Andersartigkeit: wir sind keine Japaner und wollen keine werden. Dabei ist die Diskussion über das, was japanische Konzerne tun oder nicht tun wollen, nicht nur populär, sondern auch schon recht alt. Als qualitativer Nachteil stellt sich dabei immer wieder der Geheimnis-umwitterte Einfluss japanischer Kultur und japanischer Gewohnheiten auf Management-Entscheidungen dar, die letztendlich in einem besonderen Mitarbeiterbekenntnis der Loyalität zueinander führen.

Abgehobene Hierarchie und bürokratische Kontrolle, extreme Arbeitsteilung, Missachtung der Kompetenz und Kreativität der arbeitenden Menschen widersprechen aus japanischer Sicht in Europa, sowohl den Bedürfnissen der Arbeitnehmer als auch zunehmend den Anforderungen einer flexiblen und effektiven Produktion. Nicht die Höchstautomatisierung der Fertigung, die Vertreibung des Menschen aus der Produktion, sondern ein organischer Technikeinsatz, eine gelungene Synthese von technischer und menschlicher Flexibilität auf jeder Stufe der Automatisierung sichert höchste Effizienz.

Die Strategie westlicher Unternehmen zur Verbesserung der Fertigung war und ist technologieorientiert (Industrie4.0). Ziel japanischer Produktionsmanager ist es, jeden unnötigen Einsatz von Arbeit und Ressourcen zu vermeiden (Arbeiten4.0). Die japanischen Unternehmen haben neben der Produktinnovation insbesondere die Prozessinnovation vorangetrieben. Qualifizierung erfolgt vor allem durch Weiterbildung am Arbeitsplatz, das heisst durch Aufgabenwechsel. Dieses Konzept der Gleichzeitigkeit taucht auch in einem weiteren Modewort auf – Concurrent Engineering. Wiederum ist dies nichts anderes als die systematische Beteiligung aller – von Anfang an. Auf diese Art und Weise lassen sich sowohl Entwicklungskosten als auch die Entwicklungszeit dramatisch reduzieren. Unschlagbares, geheimnisvolles Japan oder einfach Zusammenarbeit einsatzbereiter Mitarbeiter?

Probleme sind eine Chance

Lernen kann der Westen von Japan auch bei der Einstellung gegenüber den Kunden. Einen Kunden unhöflich zu behandeln oder ihn zu ignorieren ist in Japan unakzeptabel. Ein japanisches Unternehmen ist ganz auf Service und Kundenzufriedenheit ausgerichtet.

Dies ist in Japan Teil der Kultur (der Ausdruck okyakusan kann sowohl Gast als auch Kunde bedeuten), aber etwas, was sich auch ausserhalb Japans erreichen lässt. So wendet Mitsukoshi, die grösste Kaufhauskette des Landes, zum Beispiel eine ähnliche Methode an wie Toyotas berühmtes 5-mal hinterfragen (hier wird bei einem Problem fünfmal gefragt: warum? Der Gedanke, der dahintersteckt ist, dass man auf diese Art und Weise den wahren Grund eines Problems erkennen und es ein für allemal lösen kann).

Taucht irgendein Problem auf, wird nicht so sehr darauf geachtet, wessen Schuld es ist, sondern darauf, wie man es in Zukunft vermeiden kann. Probleme sind also Möglichkeiten zur Verbesserung. Dieses Kaizen-Denken herrscht in Japan sogar im Einzelhandel.

Beispiel:

Eine Supermarktkette verspricht den Kunden eine Warteschlange von höchsten zwei Einkaufswagen. Wenn das nicht eingehalten wird, bekommt der Kunde seine Einkäufe gratis. Genau, wie ein japanischer Autohersteller sein neues Modell mit dem Versprechen einführt, nicht nur die Ware PKW zu verkaufen, sondern ein garantiert funktionierendes Auto.

Wenn demgegenüber bei einer grossen deutschen Fluggesellschaft eine Flugbegleiterin einem Fluggast unabsichtlich den Kaffee über das Hemd kleckert, ist eine Entschädigung selbstverständlich. Aber der Fluggast muss erst Formulare ausfüllen und Korrespondenz erledigen, um nach vier Wochen die Kosten der Reinigung überwiesen zu bekommen, ist die Chance vertan, den Kunden wieder zufrieden zu machen. Wenn die Stewardess den Reinigungspreise schon im Flugzeug einfach in bar aus einer dafür bereitgehaltenen Kasse erstatten könnte, wäre sicher mehr erreicht.

Voraussetzung für solche in Japan selbstverständlichen Dienste ist die Aufwertung der Mitarbeiter mit Kundenkontakt; in der Managementlehre wird von Empowerment gesprochen. Denn dieselben Personen entscheiden im Privatleben, beim Kauf eines Hauses oder eines Autos, eigenverantwortlich über weit grössere Summen. Ein erster Schritt ist, dem Mitarbeiter Vertrauen entgegenzubringen und ihm die Gelegenheit zu geben, Verantwortung zu tragen und eigene Entscheidungen zu fällen. Dieses Vertrauen muss von oben kommen: der Leitsatz – Menschen tun, was man prüft, und nicht, was man erwartet – passt nicht mehr in die heutige Zeit.

Arbeitgebern fehlt mehrheitlich eine digitale Strategie

Ich behaupte keineswegs, dass Japan auf alle Fragen dieses hochkomplexen Themas eine Antwort weiss. Gerade im Arbeitgeberlager besteht allerdings substantieller Diskussions- und konzeptioneller Klärungsbedarf hinsichtlich einer digitalen Zukunftsstrategie. Nicht mit Schadenfreude, sondern mit Sorge sehe ich, dass in Deutschland kopflose Überaktivität und vorgestrige Lehrsätze vorherrschen. Politik beherrscht die Diskussion, Gestalter gibt es nur in einzelnen Betrieben.

In Japan heisst es nicht mehr Forschung gegen Entwicklung gegen Produktion gegen Marketing gegen den Verkäufer (und allzuoft auch gegen den Kunden); Forschung und Entwicklung der vierten Generation bezieht alle Beteiligten mit ein, profitiert vom Wissen aller und ist voll und ganz auf den Kunden ausgerichtet. In einer Welt, wo der Markt ständig Neuheiten verlangt, sind revolutionäre Durchbrüche die Ausnahme. Hier gewinnt das Unternehmen, das am besten das globale Wissen vieler ausnutzen kann. Gemeinsame Forschung und Entwicklung, nicht die deutsche Abschottung, sondern globales Networking ist hier die Antwort.

So betrachten japanische Unternehmen die Welt als Markt und Produktionsstandort. Menschen werden nicht nach Nationalität und Wohnort, sondern nur noch nach ihren Fähigkeiten ausgewählt und global eingesetzt. So ist zum Beispiel der Manager eines neuen Werkes in Irland ein Malaie, da er die weltbeste Produktionsanlage in Penang aufgebaut hat. Der Wille der Japaner ist ungebrochen.

Erfolgreiche Kultur

Es ist vielleicht dieser Aspekt ihrer Kultur, der sie so erfolgreich macht. Sie wollen immer von den Besten lernen. Das ist der Grund der fotografierenden japanischen Gruppen: das Wissen wird auf der Reise gesammelt und in den Firmen weitergeleitet und gemeinsam ausgewertet. Auch dies ist Teil der japanischen Kultur: da das Land früher arm war, konnten nur wenige Menschen reisen (auch innerhalb Japans). Der Reisende war der Bote einer Gruppe, der er nach seiner Rückkehr alles Erlebte berichtete. Darum auch weiterhin das (von uns oft belächelte) Einkaufen von Souvenirs: es ist ein Geschenk für die, die nicht mitreisen konnten.

Um noch einmal die eigenen Erfahrungen aus Kaizen-Studienreisen zu konkretisieren: Ziel der japanischen Firmen ist die Einbindung jedes einzelnen hier Tätigen in die Verbesserung. Das beginnt damit, dass in gut organisierten Fertigungen der einzelne das Recht hat, die Produktion zu stoppen, weil er entweder Schwierigkeiten mit der eigenen Arbeit durchläuft oder für ihn (oder sie) Qualitätsmängel aus der Arbeit Dritter sichtbar werden. Da in Japan grundsätzlich nur Zeit- und nicht Akkordlohn bezahlt wird, hat niemand einen finanziellen Ausfall, der das Produktionsband stoppt.

Generation Y fordert auch die japanische Arbeitskultur heraus

Entgegen landläufigen Vorurteilen besteht die japanische Arbeitsbevölkerung längst nicht mehr nur aus Gruppenmenschen, die das tun, was ihnen abverlangt wird. Im Gegenteil, die Zahl der Individualisten nimmt kontinuierlich zu – und damit die Schwierigkeiten für Arbeitgeber, speziell solche, die so anspruchsvolle Organisationssysteme wie Lean Management in ihren Fabrikhallen praktizieren.

Seit der Generation Y sehen sich auch die japanischen Unternehmen mit jungen Fachkräften konfrontiert, deren Ziel keineswegs ist, an der Herstellung eines Qualitätsprodukts sehr aktiv und ideenreich mitzuwirken, sondern die nicht mehr (und auch nicht weniger) wollen, als nur innerhalb einer kurzen Zeitspanne relativ viel Geld zu verdienen. Der japanische Arbeitsmarkt ist seit nun vielen Jahren – und unabhängig von der derzeit konjunkturellen Abkühlung – kontinuierlich so leergefegt, dass selbst Unternehmen wie Toyota Schwierigkeiten haben, ihren Fachkräftebedarf zu decken. Zum einen sind diese Unternehmen nun zu einem gewissen Teil ihres Arbeitskräftebedarfs auf sogenannte Teilzeitkräfte angewiesen.

Qualitätssteigerung

Unter Teilzeitkraft versteht sich in diesem Zusammenhang eine Arbeitskraft, deren Ziel es nicht ist, den allergrössten Teil seines Berufslebens im gleichen Unternehmen zu dienen. Die Funktion der Qualitätsverbesserung, die im japanischen Unternehmen eine so wichtige Rolle spielt und die eigentlich untrennbar von Lean Management ist, wird sich diesen Teilzeitkräften aber kaum je vermitteln lassen. Die zweite Konsequenz der Entwicklung des modernen Arbeiten4.0-Japans ist es, dass für die beständige Motivierung der Stammarbeitskräfte wesentlich mehr als früher getan werden muss.

Dies geschieht in der Praxis beispielsweise durch das Upgrading der Ruhezonen für das Fertigungspersonal, sowie deren räumliches Heranrücken an die Fertigungsstrassen. Durch das Näherrücken werden die Wege für die alternde Arbeitsmannschaft verkürzt. De facto geschieht das bei Toyota beispielsweise durch Tische und Stühle, die jedem gehobenen italienischen Café Ehre antäten, Grünpflanzen und frischen Blumen in ansprechenden Vasen.

Erfolgsgeheimnis Adaptionsfähigkeit

In schwierigen Zeiten wird deutschen Unternehmern und Managern bewusst, dass Veränderungen im täglichen Arbeitsprozess zu einer Überlebensfrage werden. Sie erfordern jedoch ein hohes Mass an Akzeptanz, Vertrauen, Offenheit für die Mitarbeiter, deren persönlichen Ziele in mehr Entfaltung, Erfüllung, Selbstverwirklichung und Wachstum in der Persönlichkeit.

Mit Blick auf Deutschland sagen Japaner: die deutschen Unternehmen sind einfach verfettet. Japans Wertesystem beruht auf der konfuzianischen Ethik: das Kollektiv, die Hierarchie, Seniorität, die Familie und Konformität. Entsprechende (preussische Tugenden) sind Fleiss, Loyalität, Gehorsam, Selbstdisziplin, harte Arbeit, Strenge und Respekt vor Ahnen und Älteren. Kulturell zeichnet sich Japan seit jeher durch eine grosse Adaptationsfähigkeit aus: es hat schon immer fremde – zunächst koreanische, dann chinesische, später europäische und heute amerikanische – Kulturelemente und Technologien aufgenommen, verfeinert und seinen Bedürfnissen entsprechend umgesetzt.

So kaufte Japan billig systematisch europäische und amerikanische Lizenzen und Patente ein. Es ist nicht ehrenrühig in Japan, fremde Konzepte zu absorbieren (auch zu plagieren), und eine Idee wird nur deshalb nicht als schlecht angesehen, weil man sie selbst nicht als erster gehabt hat. Letztlich verlangen die Adaptation und die kontinuierliche Umsetzung und die kommerzielle Umsetzung einer fremdentwickelten Technologie eine gewisse Kreativität, die über die normale Imitation deutlich hinausgeht.

A priori gegen a posteriori

Wenn man unbedingt darauf bestehen möchte, in dem Führungsstil einen Unterschied zwischen Europäern und Japanern zu entdecken, dann liegt er darin, dass die Japaner a priori die Gemeinschaft darin sehen, während die Europäer sie a posteriori humanisieren wollen. Es ist paradox, eine menschliche Gruppe zu humanisieren. Soll es etwa heissen: die Menschen zu ent-roboterisieren? Die Humanisierung der Arbeitswelt? Zu erfahren in Gemeinschaftsunternehmen japanischer Firmen mit europäischen Partnern.

Hier bedeutet Gemeinschaft, sich wohl zu fühlen und damit für die Aufrechterhaltung und Fortbestand dieses Gemeinschaftsunternehmens (s)ein Lebensziel zu finden. Das Wort Gemeinschaft ersetzt Organisation. Damit verschwindet der Begriffsunterschied zwischen der sauberen und schmutzigen, kurzen und langen oder höheren und niedrigeren Arbeit. In welchem Raum man Karten spielt, ist eigentlich nicht so wichtig. Wichtiger ist, in welcher Spielgemeinschaft. Wenn die Arbeit zum Vergnügen wird, wie das lang andauernde Kartenspiel, macht die Strapaze weniger aus. Es geht also nicht um die Qualität der Arbeit, sondern um die Orientierung durch die Motivation.

Gute Beziehungsgeflechte

Auch im deutschen Mittelstand finden sich Beispiele von Kooperationen. Ein Grund für die relativ guten Beziehungen (im Vergleich zu vielen anderen Staaten) zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in Deutschland ist der Gedanke der Zusammenarbeit – das Bewusstsein, in einem Boot zu sitzen. Hier spielt vielleicht auch die deutsche (preussische) Kultur eine Rolle, die traditionell grossen Wert auf Anpassung und Gruppenzugehörigkeit legt. Insbesondere in Familienunternehmen, wo die Identifizierung mit der Firma und dem Geschäftsführer/Eigentümer noch sehr eng ist. Hier bestehen eine fast japanisch anmutende Harmonie und ein gut ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl.

 

Bildnachweis: Jan Westerbarkey, CC 4.0 BY-SA

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